“Geld kann ein Land nicht wettbewerbsfähig machen”

Interview mit Hans-Werner Sinn, Deutschlandfunk, 23.06.2015.

Für Hans-Werner Sinn ist Griechenland chronisch nicht wettbewerbsfähig. Das sei das Hauptproblem und das könne nicht durch Kredite der Eurogruppe gelöst werden, sagte der Präsident des ifo-Instituts im Deutschlandfunk. Griechenland habe bereits riesige Summen erhalten. Doch nütze es der angeschlagenen Wirtschaft nicht, Schuldscheine in die Welt zu verkaufen, so Sinn.

Hans-Werner Sinn im Gespräch mit Peter Kapern.

Der Weg zurück zur Wettbewerbsfähigkeit sei schwierig, erklärte Sinn. Seiner Ansicht sei die Lösung der Austritt aus dem Euro und die damit verbundene Wiedereinführung der Drachme und nicht weitere Milliardenkrediten. Hans-Werner Sinn ist überzeugt, dass Griechenland ohne eine abgewertete Drachme nicht die Wirtschaft ankurbeln könne.

Der frühere griechische Außenminister Dimitrios Droutsas kritisierte zuvor im DLF, dass Sinn nicht "das große, große Ganze der europäischen Integration" im Blick habe und zweifelte daran, ob Sinn den Grexit befürworten würde, wenn er "nicht nur Wirtschaftspolitiker, sondern auch Politiker" sein würde. "Ich habe sehr wohl das Große und Ganze im Auge", erwiderte der Wirtschaftswissenschaftler Sinn. Die Situation sei nicht gut für das Verhältnis zwischen den Völkern Europas. Die Verschuldung untereinander hätte Europas Staaten gegeneinander aufgebracht.

Das Interview in voller Länge:

Peter Kapern: Alles geht seinen geregelten Brüsseler Gang. Das ist eine der Botschaften des gestrigen Treffens der Regierungschefs der Euroländer. Die haben nämlich der griechischen Regierung klar gemacht, dass nicht die Gipfelrunde selbst, sondern die Troika und die Finanzminister darüber entscheiden, ob Griechenland neue Kredite bekommt oder nicht. Und diese Entscheidung, die fällt erst in den kommenden Tagen. - Am Telefon bei uns Hans-Werner Sinn, Chef des ifo Wirtschaftsforschungsinstituts und einer der schärfsten Kritiker der Euro-Rettungspolitik. Guten Morgen, Herr Sinn.

Hans-Werner Sinn: Ja, schönen guten Morgen.

Kapern: Herr Sinn, die Gipfelrunde hat gestern gesagt, wir sehen Fortschritte im Schuldenstreit mit Griechenland. Sehen Sie die auch?

Sinn: Die kann ich ja nicht sehen, weil ich gar nicht weiß, was die Griechen da intern vorgelegt haben. Das ist ja nicht veröffentlicht. Insofern muss man das mal abwarten. Es ist aber vorstellbar, dass man den Griechen wieder entgegenkommt und neues Geld zur Verfügung stellt, und das wird immer so weitergehen, vermute ich. Nur lösen tut es die Situation ja nicht, weil Griechenland nicht wettbewerbsfähig ist. Das Land kam durch eine inflationäre Schuldenblase in eine Situation hinein, wo die Preise einfach viel zu hoch sind und die Löhne und der ganze Lebensstandard ist gar nicht mehr angemessen der Wirtschaftsleistung, mit der Folge, dass das Land Defizite im Außenhandel hat. Das ist jetzt reduziert worden durch die Megakrise, durch die Arbeitslosigkeit, dann können die Leute nicht mehr so viele Importe kaufen, aber das Land ist chronisch nicht wettbewerbsfähig. Das ist das Fundamentalproblem. Und selbst wenn man diese Schuldenkrise löst, löst es das Problem ja nun nicht.

Kapern: Gleichwohl muss man ja sagen, dass bis zum Amtsantritt von Alexis Tsipras, Herr Sinn, die griechische Wirtschaft ja doch wieder auf einen Wachstumskurs gegangen war, gekommen war, ein Wachstumskurs, der dann von Alexis Tsipras, so jedenfalls viele Interpretationen, wieder zunichte gemacht worden ist. Also war die griechische Wirtschaft doch eigentlich schon auf dem richtigen Weg, oder?

Sinn: Das halte ich für ein Märchen. Sie müssen bedenken: Vor fünf Jahren, als wir mit dieser Retterei anfingen, hatte Griechenland eine Arbeitslosenquote von elf Prozent und jetzt haben sie eine von 25 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 50 Prozent. Das sind doch unerträgliche Verhältnisse. Man hat Griechenland insgesamt 330 Milliarden Euro an öffentlichen Krediten gegeben, durch das EZB-System und durch die Staatengemeinschaft. Das sind von der Summe her ungefähr 35 Marshall-Pläne, wie sie Deutschland nach dem Krieg gekriegt hat. Wenn man rechnet, wie viel Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts das damals waren, das waren summiert über die Jahre 5,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von 1952. Und Griechenland hat jetzt über 180 Prozent gekriegt. Das sind ja alles riesige Summen, wie man sie sich früher nie hat vorstellen können, und das Ergebnis ist ja gar nicht vorhanden.

Man kann ein Land nicht mit Geld wettbewerbsfähig machen. Das Gegenteil tritt ein, weil das Land in eine sogenannte holländische Krankheit kommt. Die Holländer hatten ja in den 60er-Jahren Gas gefunden, das Gas verkauft in der Welt, dann haben sie ihre Löhne dadurch erhöht und die Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrie ging verloren. Erst als das Gas dann nicht mehr so stark gefördert werden konnte, hat sich die Situation allmählich wieder verbessert. Ob ich Schuldscheine in die Welt verkaufe oder Gas, ist für die heimische Wirtschaft ungefähr dasselbe. Das ist nicht so, wie man das so denkt.

Kapern: Nun argumentieren Sie ja so, Herr Sinn, als würde es der Wahrheit entsprechen, der Realität entsprechen, dass Griechenland von den anderen Europartnern gezwungen würde, diese Rettung aufzunehmen. Sie malen einen Weg aus, der viel schneller und mit viel größerer Wahrscheinlichkeit zum griechischen Halt, zur griechischen Erholung führen würde, aber die wollen davon nichts wissen. Liegt die Sache dann vielleicht doch anders, als Sie es sehen?

Sinn: Wie kommen Sie denn darauf? Die Griechen wollen ja das Geld. Das ist ja klar.

Kapern: Ja eben!

Sinn: Das zwingt ihnen doch keiner auf. Davon kann ja nicht die Rede sein. Nein, denn der Weg zurück zur Wettbewerbsfähigkeit, der ist ja schwierig. Der geht ja doch im Euro über fallende Löhne und fallende Preise, und das geht ja nicht. Sie können die Preise und Löhne zwar erhöhen, das ist schön, aber Sie können den Rückwärtsgang nicht einlegen, weil die Leute sich verschuldet haben und die müssen ihren Schuldendienst leisten. Die Schulden können Sie ja nicht mit senken. Wenn Sie jetzt die Preise und Löhne halbieren, dann kostet das Restaurant nur noch die Hälfte, aber Ihre Bank will noch immer dasselbe Geld wie vorher. Die können Sie nicht mehr bedienen. Das geht also gar nicht.

Der einzige Weg, durch den das geht, ist der Austritt und die Abwertung in die Drachme. Dann werden nämlich auch die Bankschulden auf die Hälfte reduziert. Dann werden die Mieten auf die Hälfte reduziert, sagen wir mal im Beispiel, wenn die Drachme auf die Hälfte runtergeht. Das ist so. Man kann zwar im Einzelnen das alles vereinbaren zwischen Gläubiger, Schuldner und so weiter und zwischen Mieter und dem Wohnungsinhaber, aber es ist viel einfacher, das über eine Währung zu machen. Das ist so, wie wenn Sie die Sommerzeit einführen. Die Leute könnten dann zwar auch alle von alleine ausmachen, früher ihre Arbeitsverhältnisse zu beginnen und so weiter, aber es ist viel einfacher, wir stellen die Uhr einfach um und stehen alle eine Stunde dadurch früher auf. Das ist das, was eine Abwertung bedeutet. Das kriegen Sie im Euro niemals hin und ohne eine Abwertung wird Griechenland nicht wettbewerbsfähig. Das ist das Fundamentalproblem.

Kapern: Herr Sinn, wir hatten vor etwa anderthalb Stunden den früheren griechischen Außenminister Dimitrios Droutsas hier zum Gespräch, der Ihre Position ja kennt, und ich habe ihn danach gefragt, was er denn davon hält. Und wir können uns mal ganz kurz seine Antwort anhören

O-Ton Dimitrios Droutsas: "Es geht auch um das größere Ganze. Es geht um ein ganzes Land, ein ganzes Volk Griechenlands, das wirklich mit einer Katastrophe konfrontiert wäre. Es geht aber auch politisch um das große, große Ganze der europäischen Integration, die Europäische Union, und wäre Herr Sinn nicht nur Wirtschaftspolitiker, sondern auch Politiker und würde Verantwortung tragen für die Zukunft, ich wäre mir nicht sicher, ob dann auch Herr Sinn die gleichen Ansichten vertreten würde. Die Verantwortung ist riesig."

Kapern: Herr Droutsas ist der Meinung, Sie argumentieren ausschließlich wirtschaftstheoretisch und verlieren aus dem Blick die großen politischen Fragen, um die es bei dieser Griechenland-Krise auch geht.

Sinn: Na ja, gut. Das ist ein billiger Vorwurf. Dann könnte ich ja sagen, er vertritt jetzt griechische Interessen, und zwar nicht die griechischen Interessen des ganzen Landes, nicht der Arbeitslosen, sondern irgendwelcher reicher Leute, die ihr Geld verlieren, wenn man abwertet. So kommen wir ja nicht weiter mit gegenseitigen Vorwürfen.

Ich habe sehr wohl das große Ganze im Auge, weil ich glaube, dass dieser Kurs dazu führt, dass die Länder zu Gläubigern und Schuldnern gemacht werden und gegeneinander aufgebracht werden. Stellen Sie sich mal vor, man hätte den Maastrichter Vertrag eingehalten, wonach die Gläubiger Griechenlands im Jahr 2010 die Abschreibungslasten hätten tragen müssen, nachdem Griechenland da nun schon eigentlich Pleite war, und das nicht übertragen auf die Staatengemeinschaft. Dann hätte sich Herr Varoufakis mit den Investoren aus aller Welt zusammensetzen müssen. Die hätte er anrufen müssen, die hätte er beschimpfen müssen und so weiter. Jetzt beschimpft er uns, nachdem wir ihm diesen Riesensummen Geld gegeben haben. Es ist nicht gut, die Wähler Europas, die Staaten Europas zu Gläubigern zu machen. Deutschland ist zum Gläubiger geworden und der Hass der Schuldner richtet sich jetzt auf den Gläubiger Deutschland. Das war nicht gut für die Steuerzahler, weil sie den Investoren praktisch aus der Patsche geholfen haben. Die haben sich alle aus dem Staub machen können, ob sie nun aus Amerika, aus England, aus Frankreich, aus Deutschland kamen. Und es war überhaupt nicht gut für das Verhältnis zwischen den Völkern. Dieses ist keine Friedenspolitik. Dieses hat die Völker gegeneinander aufgebracht. Und wenn wir an die Zukunft Europas denken, dann geht das nur, wenn die Völker auch wirtschaftlich zurechtkommen und selbständig und erfolgreich wirtschaften können. Sonst ist das europäische Fundament angeknackst und großer Schaden droht für den europäischen Integrationsprozess. Das ist das Problem.

Kapern: …, sagt Hans-Werner Sinn, der Chef des ifo Wirtschaftsforschungsinstituts, heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Herr Sinn, danke für Ihre Zeit, danke, dass Sie uns dieses Interview gegeben haben. 8:29 Uhr ist es und ich wünsche Ihnen einen guten Tag.

Sinn: Gleichfalls.

Nachzulesen auf www.deutschlandfunk.de (23.06.2015).