ifo Standpunkt Nr. 59: Warum die Arbeitszeitverlängerung mehr Jobs schafft

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 18. November 2004

Warum gibt es mehr Jobs, wenn wir länger für das gleiche Geld arbeiten? Diese Frage bewegt derzeit die Gemüter. Haben nicht die Gewerkschaften Recht, die sagen, dass die Unternehmen dann die gleiche Arbeit mit weniger Leuten erledigen können und die überflüssigen Arbeiter entlassen werden?

Sie haben nicht Recht. Wenn länger gearbeitet wird, steigt die Produktivität des einzelnen Arbeitnehmers. Da die Lohnkosten pro Kopf nicht steigen, lohnt es sich für den Unternehmer, mehr Leute einzustellen. Bei der alten Arbeitszeit gab es Arbeiter, die vor den Werktoren blieben, weil sie dem Unternehmer nicht ganz das liefern konnten, was sie kosten. Viele dieser Arbeitnehmer werden für den Unternehmer rentabel, weil sie wegen der längeren Arbeitszeit nun mehr liefern, als sie kosten. Sie werden eingestellt, weil es dem Unternehmer auf diese Weise gelingt, seinen Gewinn noch mehr zu steigern, als es bereits durch die Mehrarbeit der Stammbelegschaft der Fall ist.

Manchmal wird argumentiert, es sei theoretisch unklar, ob die Beschäftigung steigt. Einerseits führe die Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich zu niedrigeren Lohnkosten pro Stunde. Das vergrößere die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeitsstunden. Andererseits würden ja mehr Stunden angeboten. Es sei unbewiesen, dass der Nettoeffekt positiv sei, dass also die zusätzliche Nachfrage nach Stunden das Angebot übersteige. Diese Befürchtung ist unbegründet, denn wie die Argumentation des vorigen Abschnitts beweist, ist der Effekt theoretisch eindeutig. Wenn man auf die Zahl der Menschen statt auf die Stunden blickt, zeigt sich sofort, dass es zu einer Beschäftigungsausweitung kommen wird.

Eine Ausweitung der Arbeitszeit ist im Wirtschaftsablauf exakt dasselbe wie technischer Fortschritt, der die Produktivität eines jeden einzelnen Menschen bei gleicher Arbeitszeit erhöht. Wer argumentiert, dass eine Arbeitszeitverlängerung zu Problemen führt, muss argumentieren, dass der technische Fortschritt es auch tut. Man kann nicht einerseits Innovationen fordern, die die Produktivität der Arbeit vergrößern, um so Deutschlands Arbeitsplätze zu erhalten, und andererseits eine Arbeitszeitverlängerung mit dem Argument ablehnen, dass sie zu Entlassungen führt. Beide Positionen widersprechen einander.

In ihrem Kern ist die Befürchtung des Arbeitsplatzabbaus nach einer Arbeitszeitverlängerung so alt wie die Befürchtung, dass technischer Fortschritt Arbeitsplätze vernichtet. Diese Befürchtung wurde schon bei den Weber-Aufständen im 19. Jahrhundert gehegt. Sie hat sich aber nicht bewahrheitet. Der Kapitalismus hat den technischen Fortschritt der letzten 200 Jahre statt in eine Massenarbeitslosigkeit in eine gewaltige Erhöhung des Lebensstandards der Menschen umgemünzt.

Auch die Verlängerung der Arbeitszeit wird eine solche Erhöhung des materiellen Lebensstandards mit sich bringen (was dem Verlust an Freizeit und dem damit verbundenen Nutzenverlust nicht entgegensteht). Außer in Bereichen, wo bereits in drei Schichten gearbeitet wird, können die Maschinenlaufzeiten erhöht werden, und die Ausnutzung der vorhandenen Gebäude kann verbessert werden. Es ist, als ob der liebe Gott die Mehrarbeit mit einer Erhöhung des Kapitalstocks der Volkswirtschaft belohnt. Das Resultat ist eine prozentuale Erhöhung des Sozialprodukts fast bis zur Höhe des Prozentsatzes der Arbeitszeitausweitung. Ein gewaltiger Wachstumsschub ist die Folge.

Aber der Leser mag sich fragen, wo die Nachfrage für den Absatz der durch Mehrarbeit erzeugten Mehrproduktion herkommen soll. Nun, sie kommt aus zwei Quellen. Zum einen fallen wegen der höheren Produktivität der Arbeiter die Stückkosten der Produktion. Das erlaubt es den Unternehmen, ihre Waren und Leistungen billiger abzugeben. Zu niedrigeren Preisen ist die Nachfrage höher.

Zum anderen erzeugt das zusätzliche Angebot an Waren die Nachfrage selbst. Eine Marktwirtschaft ist eine Tauschwirtschaft. Wer etwas anbietet, fragt zugleich etwas anderes nach. Im Konkreten wird der Unternehmer, dessen Gewinne wegen der Ausweitung der Arbeitszeit steigen, mehr andere Güter und Leistungen nachfragen. Er wird diese Gewinne nicht wie Dagobert Duck als Geldbestände horten, sondern sie verwenden, um sie für Konsumgüter oder Investitionsgüter zu verausgaben. Eventuell wird er sie auch am Kapitalmarkt anlegen, was dann andere Unternehmen in die Lage versetzt, mehr Investitionsgüter zu kaufen. Jedenfalls entsteht bis auf den letzten Cent genau so viel Kaufkraft, wie an zusätzlichen Waren und Leistungen erzeugt wird.

Die Kaufkraft wird sich zwar nicht in Käufen bei dem eigenen Unternehmen äußern, sondern sich diffus über den Rest der Wirtschaft verteilen. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht kann man den Effekt deshalb vernachlässigen. Aber aus volkswirtschaftlicher Sicht ist er wichtig, denn er verhindert, dass die Preise auf breiter Front fallen müssen, um die zusätzliche Nachfrage zu generieren.

Im Prinzip ist davon auszugehen, dass die Nachfrage durch die Verlängerung der Arbeitszeit gerade um so viel steigt, wie es das Angebot tut. Nur Strukturverschiebungen zwischen Mehrnachfrage und Mehrangebot können auftreten. Solche Strukturverschiebungen führen zu einer Änderung der Preisstrukturen, die die Nachfragestruktur der Angebotsstruktur wieder anpasst, doch nicht zu systematischen Preissenkungseffekten.

Zuzugeben ist freilich, dass der Prozess insofern mit Sickerverlusten bei der Nachfrage einhergehen kann, als sich ein Teil der zusätzlichen Nachfrage auf ausländische Anbieter verlagern wird. Gäbe es flexible Kurse, würde dies zu einer Abwertung führen, bis eine hinreichende Nachfrage nach inländischen Produkten wieder hergestellt ist. Innerhalb des Euro-Verbundes kommt es stattdessen zu einer Senkung der Inflationsrate unter das Niveau der anderen Länder, so dass auf diese Weise eine etwaige Nachfragelücke geschlossen werden kann. Da deutsche Unternehmer ihre Gewinne vornehmlich für Investitionsgüter ausgeben und Deutschland ein Land ist, das sich gerade auf solche Güter spezialisiert hat, sind aber keine besonderen Effekte dieser Art zu erwarten.

Damit viele Unternehmen einen substanziellen Nachfrageeffekt spüren, ist es sinnvoll, dass sie alle ihre Arbeitszeit gleichzeitig ausdehnen. Auf das durchschnittliche Unternehmen kommt dann gerade so viel an zusätzlicher Nachfrage zu, wie es mehr produziert. Deshalb sollte sich die Politik nicht scheuen, dieses Thema anzugehen und eine konzertierte Aktion aller Beteiligten mit dem Ziel einer allgemeinen Ausweitung der Arbeitszeit in die Wege leiten. Flexible Lösungen sind in diesem Fall weniger gefragt.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Gekürzt erschienen unter dem Titel "Warum wir länger arbeiten müssen", Welt am Sonntag, Nr. 46, 14. November 2004, S. 26.