ifo Standpunkt Nr. 9: Osterweiterung der EU: Das Migrationsproblem

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 23.12.1999

Die Osterweiterung der EU kommt in ihrer Bedeutung der deutschen Vereinigung nahe. Während letztere die Bevölkerung der Bundesrepublik um 26% erweitert hat, wird erstere die EU-Bevölkerung um 28% vergrößern, wenn alle 10 Beitrittsaspiranten aufgenommen werden. Nicht weniger als 105 Millionen Menschen warten auf den Beitritt.

Ein besonders Problem wird in den Wanderungen liegen. Die Löhne in den Beitrittsländern liegen heute zumeist bei einem Zehntel der westdeutschen Löhne und einem Viertel bis Sechstel der deutschen Sozialhilfe. Angesichts dieser Zahlen ist nach der EU-Erweiterung mit einer massenhaften Westwanderung zu rechnen. Eine Hochrechnung der türkischen Wanderungen nach Deutschland führt zu einer Zahl von 4 Millionen Zuwandernden aus Osteuropa, doch angesichts der Freizügigkeit, die EU-Bürger genießen, ist diese Zahl nur die Untergrenze der plausiblen Schätzungen.

Eine temporäre Ost-West-Wanderung bis zum Aufbau eines leistungsfähigen Kapitalstocks im Osten ist sinnvoll, wenn sie durch Lohndifferenzen angetrieben wird und auf einen flexiblen Arbeitsmarkt trifft (vgl. Standpunkt 6). Da die Lohndifferenzen Produktivitätsdifferenzen widerspiegeln, führt diese Wanderung zu einem Anstieg des europäischen Sozialprodukts, der groß genug ist, die Migrationskosten zu kompensieren.

Die Wanderung ist allerdings nicht sinnvoll, wenn und in dem Maße, wie sie durch das hiesige Sozialsystem hervorgerufen wird, denn dann geht sie mit einem europäischen Wohlfahrtsverlust einher. Außerdem erzeugt eine so motivierte Wanderung einen Abschreckungswettbewerb unter den westeuropäischen Staaten, der zur Erosion des Sozialstaates alter Prägung führen muss.

Wenn der EU-Plan einer Begrenzung der Freizügigkeit Gestalt annähme, würden auch die nützlichen Wanderungen unterbunden. Besser ist es, statt dessen den Zugang zu den westlichen Sozialsystemen zumindest in einer Übergangsphase zu begrenzen, um so die durch unterschiedliche Sozialstandards angeregten Wanderungen herauszufiltern. Eine EU-weite Anwendung des in der Schweiz bewährten Heimatlandprinzips bei der Gewährung sozialer Leistungen würde dieses Ziel erreichen. Die bereits erwogene Begrenzung der Gastarbeiterbeschäftigung auf Werkverträge steht im Einklang mit diesem Prinzip, weil sie die Beschäftigung im Westen ermöglicht, doch den Zugang zum westlichen Sozialsystem erschwert. Andere Varianten des Heimatlandprinzips sind ebenfalls denkbar.

Hans-Werner Sinn
Präsident des ifo Instituts