Karl Marx

Am 5. Mai 1818 wurde Karl Marx in Trier geboren. Der Ökonom Hans-Werner Sinn sagt: Wer die Krisen der letzten Jahrhunderte verstehen will, kommt an Marx nicht vorbei.
Hans-Werner Sinn

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29. April 2018, S. 28.

Neben Martin Luther ist Karl Marx einer der berühmtesten Deutschen. Auch Marx entwarf ein Gedankengebäude, das vielen als Erleuchtung erschien, aber gerade deshalb die Welt aus den Angeln hob und verfeindete Lager bildete, zwischen denen die Spannungen eskalierten. 2017 war das Jahr Luthers, 2018 ist das Jahr von Karl Marx, dem vor zweihundert Jahren, am 5. Mai 1818 geborenen Sohn der Stadt Trier.

Marx wird verehrt, weil er den Unterdrückten dieser Erde eine Stimme gab, weil er das Unrecht, das ihnen widerfuhr, in Worte fasste und ihnen Hoffnung auf ein besseres Leben im Kommunismus machte. In China ist er noch heute ein Held, obwohl das Land schon längst vom Kapitalismus erfasst ist. In Deutschland hält sich die Begeisterung in Grenzen. Aber Marx war nicht nur ein Heilsbringer und Agitator, sondern vor allem ein Philosoph und Ökonom, der der Welt bleibende Erkenntnisse gebracht hat.

Als Philosoph wollte Marx Hegels idealistische Weltsicht vom Kopf auf die Füße stellen, wie er sagte. Dass das Sein das Bewusstsein bestimmt und nicht umgekehrt, wie Hegel meinte, ist eine tiefe Wahrheit, der sich die Gesellschaftswissenschaften einschließlich der Volkswirtschaftslehre nicht verschlossen haben. Nicht zuletzt der Untergang des Kommunismus selbst beweist die Richtigkeit dieser Aussage. Die Macht der marxschen Ideologie hat zwar zur kommunistischen Revolution beigetragen, doch mit dem ökonomischen Scheitern des Kommunismus bewahrheitete sich die Aussage von Marx, dass die ökonomischen Verhältnisse letztlich alles dominieren. Mit den Worten „It's the economy, stupid“, drückte der amerikanische Präsident Bill Clinton einmal eine ähnliche Meinung in einem ganz anderen Zusammenhang aus.

Anders als Clinton stehen allerdings Politiker meistens auf der Seite von Hegel. Paradoxerweise fabulieren gerade die Linken immer wieder vom Postulat der Politik über die ökonomischen Gesetze und glauben, sie könnten alles nach ihren Vorstellungen gestalten. Ökonomen stehen in diesem Punkte eher auf der Seite von Marx, denn sie betonen, dass die Macht der ökonomischen Gesetze größer als die Macht der politischen Gesetze ist, wenn sie denn im Konflikt stehen. So wie die Gesetze der Statik durch das Wunschdenken ästhetisch denkender Architekten nicht überwunden werden können, muss sich auch die Politik an den Rahmen dessen halten, was ökonomisch überhaupt möglich ist. Nicht alles, was schön wäre, lässt sich finanzieren. Nicht alle Eingriffe, die der Staat aus Gerechtigkeitsgründen in das Wirtschaftssystem vornimmt, verträgt dieses System. Nicht alles wirkt so, wie man es beabsichtigt. Jede Gesellschaft muss sich an die wirtschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit anpassen, wenn sie nicht scheitern will.

Das Urteil über Marx als Kollegen ist unter den Ökonomen freilich gemischt. In der angelsächsischen Welt wird er nach einem Verdikt des Nobelpreisträgers Paul A. Samuelson zumeist als minderer Epigone der ökonomischen Klassiker angesehen, dessen Versuch, eine neue Preistheorie zu entwickeln, kläglich gescheitert ist. In der Tat stimmt die marxsche „Arbeitswertlehre“, die sich im Übrigen selbst an die Klassiker anlehnt, so nicht. Es kann nicht die Rede davon sein, dass die relativen Preise der Güter den in den Gütern enthaltenen Arbeitseinsatz widerspiegeln. Zum einen werden die Preise nicht nur von den Arbeitskosten, sondern auch maßgeblich von den Kosten des eingesetzten Kapitals und des benötigten Landes bestimmt. Zum anderen sind die Preise häufig reine Knappheitspreise, die sich durch den Wettbewerb der Nachfrager erklären. So wie der Preis eines alten Rembrandt wenig mit den Arbeitskosten des Meisters zu tun hat, hat der Preis der Bodenschätze selbst nur wenig mit den Extraktionskosten, geschweige denn mit dem Arbeitsanteil unter diesen Kosten zu tun. Das gilt natürlich erst recht für den Boden selbst.

Insofern stimmt auch die Theorie vom Mehrwert nicht. Marx hatte behauptet, der Arbeitseinsatz bestimme nicht nur den Produktpreis, sondern auch den Preis der Arbeit selbst. Der Lohn sei nämlich durch die Arbeitszeit bestimmt, die zur Reproduktion der Arbeitskraft erforderlich ist. Da für die Produktion eines Gutes weniger Arbeitszeit erforderlich ist als für die Reproduktion der in diesem Gut steckenden Arbeit, ergebe sich ein Mehrwert, den die Kapitalisten sich aneignen können. Das mag dem Laien zunächst plausibel vorkommen, es stimmt aber trotzdem nicht, denn zumindest die qualifizierte Arbeit erzielt Knappheitspreise, die weit über den Reproduktionskosten der Arbeit liegen. Je mehr Kapital akkumuliert wird, desto knapper und wertvoller wird die zum Kapital komplementäre Arbeit und desto höher ist der Lohn. Hätte Marx recht, hätten die Arbeiter heute immer noch die Hungerlöhne, die er zu seinen Lebzeiten beobachten konnte.

Trotz dieser offenkundigen Fehlleistungen gibt es aber doch eine Reihe von Erkenntnissen, die man nicht geringschätzen sollte. Dazu gehört die Wachstumstheorie, die Marx im zweiten Band des „Kapitals“ entwickelt. Danach wird das Wachstum einer Wirtschaft maßgeblich durch die Ersparnis bestimmt, also jenen Teil der Einkommen, der nicht konsumiert, sondern für die Finanzierung und Akkumulation von Investitionsgütern verwendet wird. Seine mathematische Theorie war zwar einfach, zu einfach, weil sie auf einer zunächst hohen Abstraktionsebene mit einem konstanten Einsatzverhältnis von Kapital und Arbeit operierte, doch antizipierte sie in Teilen die viel später von dem Engländer Evsey Domar und erst kürzlich von dem amerikanischen Ökonomen Paul Romer entwickelte Wachstumstheorie. Unter Verweis auf Marx hat die Sowjetunion ihrer Bevölkerung in den Nachkriegsjahren Hungerlöhne zugemutet, um die Sparquote der Volkswirtschaft zu steigern und den Wettlauf mit dem Kapitalismus zu bestehen.

Das war eine recht krude Anwendung von Marx, denn mit seiner Theorie von der wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals hat Marx seine Theorie bereits im dritten Band des „Kapitals“ relativiert und das eingebaut, was man heute als wachsende Kapitalintensität der Produktion bezeichnen würde. Es gelang ihm zwar nicht, die Wachstumstheorie des zweiten Bandes auf diesen Fall zu verallgemeinern – das schaffte erst der Nobelpreisträger Robert Solow in den 1960er Jahren –, doch immerhin konnte er sein „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“ daraus ableiten, also das Gesetz von der säkular fallenden Ertragsrate für das eingesetzte Kapital.

Diese Theorie, die der Harvard-Ökonom Alvin Hansen Ende der 1930er Jahre zur „Theorie der säkularen Stagnation“ ausbaute, ist angesichts der nun schon lange dauernden Niedrigzinsphase in vielen Teilen der Welt wieder sehr aktuell geworden. Japan steckt schon seit der Mitte der 1990er Jahre in einer Situation, die man als säkulare Stagnation bezeichnen kann, und es sieht fast so aus, als wäre sie die Zukunft der Eurozone. Der deutsche Ökonom Carl Christian von Weizsäcker hat eine Variante dieser Theorie in den letzten Jahren weiterentwickelt und propagiert.

Auch beim tendenziellen Fall der Profitrate blieb Marx freilich nicht stehen, sondern spann die Gedanken getreu seiner Methode von der abnehmenden Abstraktion der Analyseschritte noch ein Stück weiter. Marx prognostizierte nämlich, dass die kapitalistische Entwicklung in Schüben stattfinden werde, die durch ein zunächst stürmisches Wachstum, den Fall der Profitrate und schließlich einen Investitionsstreik gekennzeichnet sei, der zustande komme, wenn die Profitrate zu gering geworden ist, um die Unternehmer noch zu weiteren Investitionen bewegen zu können.

Der sich ergebende Investitionsstreik führe zu Stockungen im Absatz jener Unternehmen, die Investitionsgüter herstellen, und diese Stockungen würden dann zu einer großen Krise führen. Die Wirtschaft erhole sich zwar wieder von der Krise, doch gelinge das nur zeitweise. In der Abfolge der immer intensiver werdenden Krisen gehe der Kapitalismus letztendlich zugrunde.

Man kann skeptisch sein, ob diese Prognose stimmt. Interessant sind aber die Kräfte, die nach Meinung von Marx zwischendurch immer wieder zur Erholung der Wirtschaft führen. In der Krise komme es, so Marx, zur Entwertung des Kapitals. Der Wert des realen Kapitalstocks falle, was sich in fallenden Aktienkursen niederschlage, und Firmen gingen in den Konkurs, doch auf den Ruinen der alten Firmen könnten neue Firmen entstehen und mit dem entwerteten Kapital und den freigesetzten Arbeitskräften wieder hohe Profitraten erwirtschaften. Die hohen Profitraten würden dann ein neues Wirtschaftswachstum anstacheln, das jedoch wiederum zu einer wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals und damit einer fallenden Profitrate führe, bis es schließlich wieder zur Krise komme.

Diese Theorie ist nichts anderes als das, was der österreichische Nationalökonom Joseph Schumpeter 1943 als „Theorie der schöpferischen Zerstörung“ bezeichnete. Schumpeter hatte seine an Marx angelehnte Theorie schon in seiner Habilitationsschrift formuliert, die 1912 unter dem Titel „Die Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ veröffentlicht wurde, und diese Theorie dann später, im Jahr 1943, als er schon in die Vereinigten Staaten ausgewandert war, in seinem Buch „Capitalism, Socialism and Democracy“ nochmals aufgewärmt und der Welt bekanntgemacht, ohne dass die Verwandtschaft zwischen seiner Analyse und der von Marx in das allgemeine Bewusstsein drang. Sein Erfolg erklärt sich durch die tiefere Analyse, zum Teil aber sicherlich auch durch die andere, etwas optimistischere Wortwahl bei der Verkündung seiner ansonsten sehr ähnlichen Überlegungen.

Wer die ökonomischen Krisen verstehen will, die die Welt in den letzten Jahrhunderten durchlebte, kommt an Marx und Schumpeter nicht vorbei. Das gilt auch für die jüngsten Krisen, so die Asienkrise in den 1980er Jahren, das japanische Siechtum der letzten 25 Jahre, die Dot-Com-Blase und die große Finanzkrise im Zusammenhang mit der Lehman-Pleite.

Stets ging den ökonomischen Krisen eine Wirtschaftsblase mit einem stürmischen Wachstum voraus, das total übertrieben war, weil die Erwartungen zu optimistisch waren. Die Leute sahen wachsende Immobilienpreise und Aktienkurse, und sie wollten davon profitieren, indem sie auch selbst in diese Vermögenswerte investierten. Das trieb die Preise noch stärker nach oben und heizte die Spekulation noch weiter an. Die Bautätigkeit nahm zu, den Firmen fiel es leicht, Geld für neue Investitionsprojekte einzusammeln, die Löhne wuchsen, und immer mehr Leute sahen sich veranlasst, Schulden zu machen, weil sie glaubten, ihre Einkommen würden der Schuldenlast davonwachsen. Auch trauten sich die Unternehmen, mehr zu investieren, weil sie wachsenden Absatz vermuteten, und die Investitionen waren ja auch ihrerseits Absatz der Investitionsgüterindustrie.

Die Möglichkeit der Krise wurde in solchen Boomphasen regelmäßig beiseitegeschoben. Man hielt die Krisen für ein überkommenes Relikt der Vergangenheit, und das Wachstum sah man als Beleg der eigenen Stärke und Leistungsfähigkeit an. Als sich im Vorfeld der Lehman-Krise eine gewaltige Blase in Amerika aufbaute, wurde sogar der amerikanische Mainstream der Ökonomen optimistischer. Der schon erwähnte Paul Romer entwickelte seine Theorie vom ewigen Wachstum, andere Ökonomen wie der Notenbankchef Ben Bernanke sprachen von der „great moderation“, einer Zeit ohne größere Konjunkturschwankungen, die nun angebrochen sei. Und es überboten sich die Finanzanalysten und Ökonomen bei dem Versuch, den Anstieg der Immobilienpreise zu einem lang anhaltenden Gleichgewichtsphänomen zu stilisieren.

Doch folgte dem allzu stürmischen Wachstum stets die Krise. Die Ökonomen Carmen Reinhardt und Kenneth Rogoff haben dies vor einigen Jahren in ihrem mehrere Jahrhunderte abdeckenden Buch mit dem ironischen Titel „Dieses Mal ist alles anders“ („This Time is Different“) überzeugend dargelegt. Im Boom glaubten die im System gefangenen Marktteilnehmer jeweils an die dauerhafte Prosperität, doch häufig erwies sich der Boom als Blase, die anschließend platzte. Die Ähnlichkeiten der Zyklen von Auf- und Abschwung über die letzten Jahrhunderte waren frappierend. Ein, zwei Jahrzehnte oder manchmal länger ging die Reise bergauf, doch dann folgte der plötzliche Absturz. Der Absturz ging in historischer Perspektive stets mit der Korrektur der überzogenen Preise der Vermögensgüter einher, also dem, was Marx als Entwertungskrise und Schumpeter als schöpferische Zerstörung sah, und schuf damit die Bedingungen eines neuerlichen Wachstums.

Obwohl der ironische Titel des Buches von Reinhardt und Rogoff die Warnung enthält, auch bei den akuten Krisen keine Sondereffekte zu sehen, liegen sie seit der Japan-Krise aber doch möglicherweise vor. Während die asiatische Krise des Jahres 1997, die Thailand, Malaysia, Indonesien, die Philippinen und schließlich auch Südkorea erfasste, aus echten Entwertungskrisen mit massiven Bankzusammenbrüchen bestand, die den Keim des Neuanfangs in sich trugen, war es in Japan anders. Dort hatte man in den Jahren seit dem Platzen der Immobilienblase im Jahr 1990 – für Tokio hätte man sich damals ganz Kanada kaufen können – zunächst mit Bilanzierungstricks die Abschreibungslasten der Banken versteckt und dann mit einer keynesianischen Schuldenpolitik und einer expansiven monetären Politik gegengehalten, wie die Welt sie noch nicht gesehen hatte. Die staatliche Schuldenquote vervierfachte sich bis heute auf etwa 240 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, und die Zinsen wurden seit Mitte der 1990er Jahre nahe bei null gehalten. Damit wurden die dramatisch überhöhten Werte der Vermögensgüter verteidigt, die sich in der Blase gebildet hatten, Pleiten wurden verhindert, und Zombie-Banken nebst ihren Zombie-Kunden – Scheintote, die eigentlich schon längst nicht mehr wettbewerbsfähig waren – wurden am Leben gehalten. Die Profitrate blieb auf diese Weise im Keller, und bis zum heutigen Tage sprang die japanische Wirtschaft nicht wirklich an, während die anderen asiatischen Länder bald schon wieder kräftig wuchsen. Ein schleichendes Siechtum statt einer schöpferischen Zerstörung war das Ergebnis der japanischen Politik.

Europa ist heute im Begriff, den japanischen Weg zu imitieren, denn seine Zentralbank betreibt eine ähnlich expansive Politik, wie die Japaner sie wählten. Die kurzfristigen Zinsen sind nahe bei null, die Zentralbank kauft in gewaltigem Umfang Staatspapiere von den Banken, um die Kurse hoch zu halten, und zugleich werden unter Missachtung sämtlicher Schuldenpakte neue Staatsschulden aufgehäuft. Den Zombie-Banken samt ihren maroden Kunden werden die Milliarden in den Rachen geworfen, um die Bilanzen zu retten, zumindest bis zum Zeitpunkt der Vergemeinschaftung der Einlagen der Banken. Die Portfolio-Manager aus aller Welt applaudieren der EZB, weil sie ihre gewagten Portfolios und mit ihnen die eigenen Einkommen gerettet hat. Nur die normalen Bürger, die Steuerzahler und die auf Zinsen hoffenden Sparer, haben bei allem ein mulmiges Gefühl. Ob ihre Kinder in einer dahin siechenden Welt groß werden müssen? Ob sie es sein werden, die die Zeche für den Verzicht auf eine Wertkorrektur der Kapitalgüter und den Erhalt der Blasen werden tragen müssen, und ob sie sich jemals wieder dem Zugriff der Gläubiger aus aller Welt entziehen können, denen sie sich als Bürgen präsentieren mussten? Das wird die Geschichte zeigen.

In gekürzter Fassung ebenfalls erschienen in der Schwäbischen Zeitung als „Keine Krise ohne Marx“, 5. Mai 2018, S. 8.