Lob der Globalisierung

Der Freihandel hat Millionen von Menschen aus absoluter Armut befreit. Protektionismus ist die größte Gefahr für die Weltwirtschaft.
Hans-Werner Sinn

Handelsblatt, 25.08.2016, S. 20-21

Insgesamt hat die Globalisierung die Ungleichheit auf der Welt nicht erhöht, sondern dramatisch verringert, weil die bittere Armut von 45 Prozent der Menschheit, die vom Joch des Kommunismus befreit wurden, nun allmählich überwunden wird.

Donald Trump trifft mit seiner Globalisierungskritik den Nerv der Amerikaner. Über Jahrzehnte sind in den USA die Reallöhne nicht gestiegen, während die Gewinne explodierten. Die weiße Mittelschicht der Industriearbeiter und Kleingewerbetreibenden wurde von der Wohlstandsentwicklung abgehängt und sucht nun Schutz im Protektionismus, wie er vom Präsidentschaftskandidaten der Republikaner vertreten wird. Auch in Europa sammeln sich politische Kräfte an den Extremen, weil die chronische Euro-Krise allmählich dem letzten Optimisten in Südeuropa und Frankreich die Hoffnungen raubt und die arbeitslosen Industriearbeiter radikalisiert. Die Kritik am Euro vermischt sich mit der Kritik am weltweiten Freihandel.

Waren also die Prognosen der Ökonomen bezüglich der Wirkungen des Freihandels falsch? Muss man sich wieder einmal vor den Neoliberalen hüten, die den Mächtigen und Reichen bei der Ausbeutung der Arbeiter helfen wollen?

Nun, nicht die Prognosen der Ökonomen waren falsch, sondern die mancher Politiker. Wenn John F. Kennedy davon sprach, dass der Freihandel den Wasserstand hebt, was kleine und große Schiffe gleichermaßen nach oben trägt, hat er zuvor bestimmt keinen Ökonomen gefragt. Denn seit mehr als einem halben Jahrhundert gehört das sogenannte Faktorpreisausgleichstheorem zum festen Lehrstoff der Disziplin, ja die gesamte reine Außenhandelstheorie dreht sich darum. Danach kommt es durch Freihandel zwar im Allgemeinen zu Wohlfahrtsgewinnen für die beteiligten Volkswirtschaften als Ganzes, weil sich jede auf das spezialisiert, was sie besonders gut kann. So steigen das Sozialprodukt und der durchschnittliche Lebensstandard. Doch keinesfalls kommt es für alle Anbieter von Produktionsfaktoren zu solchen Steigerungen. Allgemeine Wohlfahrtsgewinne gibt es nur in dem Sinne, dass die Gewinner in der Lage wären, die Verlierer zu kompensieren, und trotzdem noch etwas übrig hätten. Doch nicht in dem Sinn, dass ohne eine solche Kompensation alle Bürger gewinnen.

Das liegt daran, dass sich Faktorpreise, also im Wesentlichen die Kapitalrenditen und die Löhne für jeweils ähnliche Tätigkeiten, auf gemeinsamen Märkten tendenziell einander angleichen. Davon können die Arbeiter in den Industrieländern gar nicht profitieren. Der durchschnittliche weltweite Wasserstand wurde zwar gehoben. Aber durch den weltweiten Arbeitsmarkt, der durch die Globalisierung entstand, wurde der Wasserstand für die Industriearbeiter der westlichen Länder im System der kommunizierenden Röhren des Weltarbeitsmarkts gesenkt, jedenfalls gegen den Trend gerechnet, der sich sonst ergeben hätte. Ich habe mich seit den 1990er-Jahren in einer Vielzahl von Fachartikeln und auch Zeitungsbeiträgen dazu ausgelassen und die dramatischen Verteilungseffekte, die durch den Fall des Eisernen Vorhangs auf die westliche Welt zukommen würden, prognostiziert, die heute beklagt werden.

Wenn man China, die Sowjetunion und das ehemals auch recht kommunistische Indien zusammennimmt, wurden mit dem Ende des Kommunismus 43 Prozent der Menschheit in den Freihandel integriert und zu Konkurrenten jener 16 Prozent der Menschen gemacht, die in den entwickelten Industrieländern leben, die in der OECD zusammengefasst sind. Dies hat die relative Knappheit von Arbeit und Kapital in den Marktwirtschaften der Welt auf einmal dramatisch zulasten der Arbeit verändert. Insofern war klar, dass die Arbeiter zu den Verlierern und die Unternehmer und Vermögensbesitzer zu den Gewinnern der Globalisierung gehören würden.

Es hätte für Deutschland keinen Sinn gehabt, sich diesem Trend durch die Festigung der gewerkschaftlichen Tarifmacht oder durch Mindestlöhne entgegenstellen zu wollen, denn das hätte nur die Arbeitslosigkeit vergrößert und noch mehr Ungleichheit erzeugt.

Mehr Ungleichheit bei Einkommen In der Tat kann man den dramatischen Trend zu immer mehr Arbeitslosigkeit und die wachsende Ungleichheit in Westdeutschland in den Jahrzehnten vor Schröders Agenda 2010 auch auf den vergeblichen Versuch zurückführen, sich den Kräften des Faktorpreisausgleichs widersetzen zu wollen. Deutschland hatte damals nach Norwegen die höchsten Stundenlohnkosten auf der ganzen Welt. Sockellohnvereinbarungen, die Jahrzehnte währende überproportionale Anhebung der Sozialhilfe und der Ausbau der Arbeitslosenhilfe hatten alle dazu beigetragen, die Lohnansprüche und Löhne im unteren Bereich zu erhöhen und Deutschland zum OECD-Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten zu machen.

Erst die aktivierende Sozialpolitik, die mit der Agenda 2010 ein Stück weit realisiert wurde, hat den Trend gebrochen, denn auf einmal gab es nicht mehr so viel Geld fürs Wegbleiben vom Staat, sondern in Form von Lohnzuschüssen Geld fürs Mitmachen, was einige fälschlicherweise als Aufstockung bezeichnen. (Dabei hatte Schröder die Aufstockung auf ein festes Zielniveau beim Einkommen doch gerade beseitigt!) Aus beiden Gründen fiel die Mindestlohnschranke des deutschen Sozialsystems, die Bruttolöhne spreizten sich aus, und Deutschland erlebte sein weltweit beachtetes Beschäftigungswunder. Es ist heute auch nicht mehr Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten, sondern schwimmt irgendwo im Mittelfeld mit.

Und das Gute ist: Weil mit der Arbeitslosigkeit ein Ungleichheitsmotor ersten Ranges abgebaut und ein Lohnzuschuss gezahlt wurde, erlebte Deutschland seit der Reform keine weitere Spreizung der Nettoeinkommen mehr, im Gegenteil. Der Gini-Koeffizient der Nettoeinkommen ging sogar leicht zurück.

Abgesehen von der deutschen Sonderentwicklung ist aber nicht bestreitbar, dass der Fall des Eisernen Vorhangs praktisch in der gesamten westlichen Welt mehr Ungleichheit in der Einkommensverteilung hervorgerufen hat. Darauf haben Piketty und andere ja hingewiesen, nur dass Piketty mit seiner verqueren Begründung, die auf den Unterschied zwischen der Kapitalrendite und der Wachstumsrate abstellt, ziemlich danebenliegt. Die Kräfte des Faktorpreisausgleichs waren wesentlich stärker und dominanter als alles, was er zu Felde führt.

Der Faktorpreisausgleich hat auch zu einer Erhöhung der Ungleichheit in China und anderen Schwellenländern geführt. Aber das ist keine beklagenswerte Entwicklung, sondern nur der sogenannte Kuznets-Effekt, eigentlich eine Trivialität. Wenn sich ein Land wie China von der Küste her sukzessive weiter ins Innere entwickelt, steigen zuerst an der Küste die Löhne, während sie im Inneren zunächst noch auf gleichem Niveau sind. Dadurch nimmt die Ungleichheit zwangsläufig zu. Es handelt sich dabei aber nur um einen temporären Effekt, denn in dem Maße, wie sich der gemeinsame weltweite Arbeitsmarkt ins Innere Chinas ausbreitet, nimmt auch die Lohnungleich innerhalb Chinas wieder ab.

Migration überlastet Sozialstaaten Insgesamt hat die Globalisierung die Ungleichheit auf der Welt nicht erhöht, sondern dramatisch verringert, weil die bittere Armut von 45 Prozent der Menschheit, die vom Joch des Kommunismus befreit wurden, nun allmählich überwunden wird. Insbesondere hat der Anteil der Menschen, die unterhalb des von der Weltbank definierten Existenzminimums von nun 1,90 Dollar pro Tag leben müssen, sehr stark abgenommen. Er fiel von 44 Prozent im Jahr 1981 auf nur noch 13 Prozent im Jahr 2012. Das ist vermutlich der größte Vorteil der Globalisierung überhaupt.

All diese Faktorpreisausgleichseffekte kommen im Prinzip bereits durch den Freihandel und den freien Kapitalverkehr zustande. Da sich die Niedriglohnländer auf arbeitsintensiv produzierte Güter spezialisieren, während die Hochlohnländer sich auf kapital- und wissensintensive Prozesse spezialisieren, steigen die Löhne für einfache Arbeit in Ersteren und fallen in Letzteren. Verstärkt wird der Effekt dadurch, dass das Kapital von den Hochlohn- in die Niedriglohngebiete wandert. Es wird also ein gemeinsamer Arbeitsmarkt geschaffen, ohne dass die Arbeit dafür wandern muss.

Kann auch die Arbeit selbst wandern, verstärken sich diese Effekte noch. Es kommt dann freilich in der Regel zu einer Überreaktion der Märkte, weil die Hochlohngebiete zugleich auch Gebiete mit hohen Sozialstandards und einem allgemein hohen Niveau der öffentlichen Daseinsvorsorge sind. Die ungezügelte Migration ist dann übermäßig stark, weil sie nicht nur durch Lohndifferenzen, sondern zusätzlich noch durch die Geschenke des Sozialstaats getrieben wird. Der Sozialstaat wird quasi zum Magnet für Armutsmigranten. Die überschüssige und schädliche Migration, die durch die Sozialstaaten angeregt wird, wird zur Erosion der Sozialstaaten führen, wenn man sie nicht einschränkt. Diese Erkenntnis hat David Cameron den europäischen Politikern vergeblich klarzumachen versucht.

Was folgt aus alledem? Bestimmt nicht, dass man zu einem System des Handelsprotektionismus zurückkehren sollte. Die beschriebenen Effekte sind im Wesentlichen hinzunehmen und werden teilweise auch bereits von den Sozialstaaten abgefedert. Wenn man so will, macht erst der Sozialstaat Freihandel und Handelsgewinne möglich, weil er die Verlierer des Geschehens kompensiert und versöhnt.

Deutschland gehört nach den OECD-Statistiken zu den Ländern, die am stärksten in die Einkommensverteilung eingreifen, indem sie über das Steuersystem von oben nach unten umverteilen. Das macht eine hohe Ungleichheit der Bruttoeinkommen möglich, wie sie für die erfolgreiche Partizipation am Welthandel erforderlich ist. Zugleich hat die Umverteilung Deutschland im internationalen Vergleich eine sehr hohe Gleichheit der Nettoeinkommen beschert. Im Ganzen verfügt unser Land damit über ein solides und erfolgreiches Modell, bei dem der Sozialstaat das sinnvolle Komplement einer weltoffenen Freihandelspolitik ist, der wir unseren Wohlstand verdanken. Die Achillesferse des deutschen Modells ist freilich die Magnetwirkung des Sozialstaats für Migranten. Daran muss die deutsche Bundesregierung im Verein mit den europäischen Partnern noch arbeiten. Auch sollte sie die Umdrehung der Schröder'schen Reform durch die Mindestlohngesetzgebung überdenken. Aber ansonsten hat die Globalisierung für die Welt als Ganze und auch für Deutschland selbst sehr positive Auswirkungen gehabt.

Auch Donald Trump täte übrigens gut daran, den Ausbau des amerikanischen Sozialstaats zu fordern, anstatt nun einer Abschottung das Wort zu reden. Das würde in den USA zu einem höheren Massenwohlstand führen.

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