Flüchtlinge verschärfen Probleme des alternden Sozialstaats

Hans-Werner Sinn

fnp.de, 18.03.2016.

Mit dem Chef des Münchener ifo-Instituts Hans-Werner Sinn sprach diese Zeitung über die Flüchtlingskrise, deren Folgen für die deutsche Gesellschaft und irreale Vorstellungen der Politik.

Von Dieter Hintermeier

Herr Professor Sinn, das Flüchtlingsthema beherrscht seit Monaten die Schlagzeilen. Wie konnte es zu dieser „Völkerwanderung“ kommen?

HANS-WERNER SINN: Die Wanderung erklärt sich durch die Verbreitung der Informationen über die Lebensweise in Europa durch das Fernsehen, durch die lasche Politik der Grenzsicherung seitens der EU und durch die Entscheidung der Bundesregierung, vermeintliche Flüchtlinge aus Kriegsgebieten ohne Einzelfall- und Identitätsprüfung hereinzulassen. Letzteres hat eine Lawine ausgelöst.

Die EU ist groß. Es gibt viele Zufluchtsländer. Warum möchten so viele Menschen nach Deutschland?

SINN: Die Flucht hat zwei Stufen. Erst einmal flieht man vor dem Bürgerkrieg in Syrien in die Türkei. Und dann wandert man aus ökonomischen Gründen in das Land, das einem am meisten gibt und wo es sich am besten leben lässt. Das ist nach Lage der Dinge Deutschland. Deutschland gewährt den Flüchtlingen die großzügigen Leistungen des hiesigen Sozialstaates, sein Arbeitsmarkt ist derzeit in guter Verfassung, was Beschäftigungsmöglichkeiten verspricht.

Können wir diese Menschen alle aufnehmen und wie sollte eine optimale Migrationspolitik aussehen?

SINN: Nein, die Migration der Bürgerkriegsflüchtlinge nach Europa sollte gestoppt werden. Wenn wir alle Bürgerkriegsflüchtlinge aus Afrika mit der gleichen Begründung aufnehmen wollten, würden wir die Grenzen des technisch und soziologisch Machbaren um ein Vielfaches überschreiten. Allein in Nigeria leben 170 Millionen Menschen. In ganz Afrika leben 1,1 Milliarden, und in vielen Ländern gibt es Bürgerkriege. Schon das zeigt, dass die deutsche Interpretation der Genfer Flüchtlingskonvention, nach der Bürgerkriegsflüchtlinge Schutz genießen, nicht weit trägt. Man muss den Leuten vor Ort oder in den unmittelbaren Nachbarländern helfen, wo sie in Sicherheit sind. Das sieht auch die Genfer Flüchtlingskonvention so vor. Dessen ungeachtet braucht Deutschland aus demographischen Gründen gut ausgebildete Wirtschaftsemigranten, die es sich nach einem Punktesystem aussuchen sollte. Im Übrigen haben wir natürlich eine historische und auch im Grundgesetz verankerte Verpflichtung, den von Staaten politisch Verfolgten, also nicht den Bürgerkriegsflüchtlingen, Asyl zu gewähren. Der Anteil der Menschen, die in diese Kategorie fallen, betrug im letzten Jahr aber nur 0,7 Prozent der erledigten Anträge, also so viel, wie in zwei Tagen kamen.

Welche Folgen haben die Flüchtlingsströme für Deutschland und besonders für die Wirtschaft?

SINN: Die Menschen werden zu einer großen Belastung für den Sozialstaat werden. Schon die bisherigen Migranten waren eine fiskalische Belastung für den Sozialstaat, und sie haben maßgeblich zur Bildung einer neuen Unterschicht beigetragen. Da die Migranten aus Kriegsgebieten schlechter ausgebildet sind, werden sie noch teurer. Die Wirtschaft profitiert zwar von den billigen Arbeitskräften, weil die Löhne der Einheimischen gedrückt werden, doch ist der Verlust bei jenen, die mit den Flüchtlingen konkurrieren, genauso groß wie der Gewinn der Wirtschaft. Im Übrigen wird die Ungleichheit größer und der Sozialstaat entsprechend teurer.

Welche Kosten kommen konkret wegen des Flüchtlingszustroms auf den Staat zu?

SINN: Professor Raffelhüschen von der Universität Freiburg hat aufgrund einer Generationenbilanz berechnet, dass eine Million Flüchtlinge Deutschland auf die Dauer Kosten verursachen, die einer neuen Staatsschuld von 450 Milliarden Euro entsprechen. Raffelhüschen ist einer der wenigen deutschen Experten, die die Generationenbilanzrechnung beherrschen. Es sind viele Zahlen in Umlauf, die nicht seriös berechnet wurden.

Können die Flüchtlinge den demographischen Faktor in Deutschland positiv beeinflussen?

SINN: Im Prinzip schon, weil sie jung sind. Junge zahlen in die Rentenversicherung ein und helfen, die Rentenlasten zu schultern. Aber das ist nur ein Aspekt. Noch wichtiger ist die Ausbildung. Wer schlecht ausgebildet ist, verdient wenig und zahlt auch nur unterdurchschnittlich viele Steuern und Beiträge, nicht genug, um das Potpourri der staatlichen Leistungen, das er bekommt, zu finanzieren. Nach der zitierten Rechnung von Raffelhüschen werden die Probleme des alternden Sozialstaates wegen der schlechten Qualifikation der Migranten aus den Kriegsländern verstärkt, obwohl die Zuwandernden jung sind.

Wie lange wird die Integration der Flüchtlinge dauern, so dass diese Zahler für die Sozialkassen werden?

SINN: Raffelhüschen rechnet damit, dass die Flüchtlinge nach sechs Jahren so integriert sind wie der Durchschnitt der bereits anwesenden Migranten. Eine wirkliche Integration in dem Sinne, dass die Migranten Einkommen erzielen, die dem Durchschnitt der insgesamt in Deutschland anwesenden Bevölkerung entsprechen, so dass die Migration den Staat netto kein Geld mehr kostet, wird nach meiner Einschätzung mindestens bis zur dritten Generation dauern. Um ein Gefühl für die Zeiträume zu bekommen, sollten Sie sich anschauen, wie heute die Enkel jener Türken leben, die in den 1960er und 1970er Jahren als Gastarbeiter kamen, die dann im zweiten Schritt auch ihre Familien nachholten. Einige haben den Aufstieg geschafft, aber viele nicht.

Wie schätzen Sie die Qualifikation der Flüchtlinge ein?

SINN: Man kann nach unseren Analysen davon ausgehen, dass zwei Drittel der Bevölkerung in den Herkunftsländern der Flüchtlinge funktionale Analphabeten sind. Jedenfalls zeigen die Ergebnisse der 2011, also vor dem Krieg, durchgeführten OECD-Tests, dass zwei Drittel der Bevölkerung unter dem PISA-I-Niveau liegen, das Mindestqualifikationen für die Teilnahme an einer modernen Gesellschaft definiert. Die Flüchtlinge könnten allerdings eine bessere Auswahl sein. So sind in der Tat nur noch 46 Prozent der syrischen Flüchtlinge in türkischen Lagern dieser Kategorie zuzuordnen.

Ist es vor diesem Hintergrund sinnvoll, am Mindestlohn festzuhalten, wenn man Flüchtlinge beschäftigen will?

SINN: Nein. Nur bei niedrigerem Lohn werden für die Unternehmer neue Geschäftsmodelle rentabel, die die Anstellung von gering qualifizierten Flüchtlingen ermöglichen. Als der Mindestlohn eingeführt wurde, kam die Hälfte jener Migranten aus den Kriegsländern, die hier beschäftigt war, in den Genuss einer Lohnerhöhung. Die Bindungswirkung des Mindestlohns ist also für diese Menschen extrem hoch. Im Westen war die Bindungswirkung ansonsten im Durchschnitt nur 10 Prozent und im Osten 20 Prozent.

Wird die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel der Situation noch gerecht?

SINN: Nein. Die Politik geht von irrealen Annahmen aus, bewegt sich nach Meinung ehemaliger Verfassungsrichter hart am Rande des Rechts, destabilisiert die deutsche Gesellschaft, entzweit die EU und läuft Gefahr, der Türkei eine Brechstange für den EU-Beitritt in die Hand zu geben.

Nachzulesen auf www.fnp.de