Der Nikolaus spricht deutsch

Hans-Werner Sinn

Presseartikel von Hans-Werner SinnSinn, Project Syndicate, Dezember 2006

Der Nikolaus war ein Türkischer Derwisch, der im Mittelalter durch Europa reiste, sich als Inkarnation des griechischen Nikolaus von Myra ausgab und Geschenke an die Kinder verteilte. Zusammen mit dem Weihnachtsbaum wurde er zum zentralen Symbol der deutschen Weihnacht. Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert trugen deutsche Einwanderer, die so-genannten Pennsylvania Dutch, diese Symbole nach Amerika, von wo aus sie sich in die Welt verbreiteten, und sei es nur in Form der Coca-Cola-Werbung.

Im Jahr 2006 kam der Nikolaus wieder aus Deutschland, diesmal mit einem Sack voll guter Konjunkturnachrichten. Der ifo Klimaindex, der schon seit der zweiten Hälfte des Jahres 2005 kräftig gestiegen war, erreichte im Herbst des Jahres 2006 seinen höchsten Wert seit der deutschen Vereinigung. Nach Jahren der Stagnation, wuchs die deutsche Wirtschaft im Jahr 2006 um 2,5%. Und obwohl die Mehrwertsteuer im Jahr 2007 um drei Prozent heraufgesetzt wird, wird die Wirtschaft dann noch immer um knapp 2% wachsen.

Der ifo Klimaindex wird durch eine allmonatliche Umfrage bei 7000 deutschen Firmen gewonnen, die vornehmlich dem verarbeitenden Gewerbe entstammen. Die Firmen werden nach ihrer aktuellen Wirtschaftslage und nach ihren Erwartungen für das nächste halbe Jahr befragt. Der Index wird schon fünfzig Jahre lang produziert, und nach einer Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters ist er der wichtigste europäische Wirtschaftsindikator überhaupt, noch vor den offiziellen Indikatoren der EU.

Zu Beginn des Jahres 2006, als der Index einen starken Aufschwung signalisierte, doch das Statistische Bundesamt noch mit mageren Quartalszahlen beim Wachstum daher kam, machte sich ein Teil der deutschen Presse über den Indikator lustig. Doch spätestens, nachdem das Bundesamt seine Quartalszahlen zur Jahresmitte kräftig nach oben hin revidierte, war jedermann klar, dass der ifo Index wieder einmal Recht behalten hatte.

Das sind nicht nur für Deutschland gute Nachrichten, sondern auch für Europa im Ganzen, denn das Wirtschaftsklima im deutschen verarbeitenden Gewerbe reflektiert das Wirtschaftsklima im Rest Europas, weil die meisten deutschen Exporte dorthin gehen. Im Jahr 2006 sind die Länder der Eurozone vermutlich um 2,7% gewachsen, und für das Jahr 2007 können immerhin noch 2,2% erwartet werden.

Freilich gibt es innerhalb Europas erhebliche Unterschiede. Einigen Ländern geht es besonders gut, bei anderen läuft die Wirtschaft noch immer nicht. Spitzenreiter beim Wachstum im Jahr 2006 waren Finnland mit 5,8%, Irland mit 5,2% und Spanien mit 3,7%, von den osteuropäischen Ländern, die als Nachzügler ohnehin schneller wachsen, einmal abgesehen. Schlusslichter waren Portugal und Italien mit Wachstumsraten von nur 1,5% und 1,7%. Auch Frankreich tat sich mit einem Wachstum von nur 2,1% erstaunlich schwer, hatte es doch bislang stets vor Deutschland gelegen.

Es wäre verfehlt, Deutschland als die Wachstumslokomotive Europas zu bezeichnen, denn noch immer liegt das deutsche Wachstum unter dem Durchschnitt der Euroländer. Bedenkt man jedoch, dass Deutschland neben Italien in den Jahren 1995 bis 2005 das Schlusslicht beim Wachstum in Europa war und dass es die bei weitem größte Volkswirtschaft Europas ist, so können die guten Wirtschaftsnachrichten aus Deutschland sehr wohl Erleichterung auslösen. Während die US-amerikanische Wirtschaft zu stagnieren beginnt, ist nun der Aufschwung auf dieser Seite des Atlantik in Gang gekommen.

Deutschland hat als Vizeweltmeister im Export zunächst sehr stark von einer weiteren Steigerung der Exportziffern profitiert. Die deutschen Exporte stiegen im Jahr 2005 um 6,9% und im Jahr 2006 um 11,2%. Inzwischen ist jedoch auch die Binnennachfrage nach Investitionsgütern in Gang gekommen. Einerseits musste die Exportindustrie ihre Kapazitäten ausweiten, und andererseits hat der normale Ersatzzyklus bei den Kapitalgütern neue Investitionen nötig gemacht. Die zusätzlichen Investitionen bedeuteten einerseits neue Stellen beim Bau und in der Maschinenbauindustrie, andererseits bringen sie natürlich in der Zukunft neue Stellen bei den Unternehmen, die diese Investitionen tätigen.

Entgegen anders lautender Kommentare in der Presse kann der Konjunkturaufschwung noch nicht als Trendwende in der längerfristigen Wirtschaftsentwicklung des Landes gesehen werden. Seit 1970 gibt es in Deutschland ein ganz regelmäßiges Muster für die Konjunktur. In der ersten Hälfte des Jahrzehnts nahm die Arbeitslosigkeit zu, und in der zweiten nahm sie wieder ab, wobei der Tiefpunkt der Arbeitslosigkeit stets ziemlich genau auf das volle Jahrzehnt bzw. das darauf folgende Jahr fiel. Das zyklische Muster war stets von den Ausrüstungsinvestitionen getrieben und folgte den Vorhersagen des Multiplikator-Akzelerator-Modells der volkswirtschaftlichen Theorie. Leider nahm die Arbeitslosigkeit von Boom zu Boom zu. Die Tiefpunkte der Arbeitslosigkeit liegen auf einem linear ansteigenden Trend, dessen Ende noch nicht abzusehen ist.

Es ist heute noch viel zu früh, eine Änderung des Trends zu proklamieren. Im Jahr 2006 ging die Arbeitslosigkeit von 4,9 auf 4,5 Millionen zurück, und für das Jahr 2007 kann man einen weiteren Rückgang auf 4,1 Millionen erwarten. Ob es danach möglich sein wird, unter den kritischen Wert von 3,89 Millionen zu kommen, der das Minimum der Arbeitslosigkeit beim letzten Boom im Jahr 2000 kennzeichnet, bleibt abzuwarten. Man muss die weitere Wirtschaftsentwicklung bis in das nächste Jahrzehnt hinein beobachten, um ein Urteil über eine mögliche Trendwende bei der strukturellen Entwicklung der deutschen Arbeitslosigkeit fällen zu können.

Dessen ungeachtet, gibt es allen Grund, sich über den derzeitigen Aufschwung zu freuen. Mit etwas Glück könnten die guten Zeiten für Deutschland und Europa im Ganzen bis zum Ende des Jahrzehnts andauern.

Hans-Werner Sinn ist Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in München.

Project Syndicate, 2006. www.project-syndicate.org