Ein bewundernswerter Erfolg für unsere türkischen Immigranten

In der deutschen Wirtschaft sind türkische Einwanderer zu einer wichtigen Größe geworden. Das zeigen nicht nur die Gründer von Biontech. Ein Gastbeitrag.
Hans-Werner Sinn

Frankfurter Allgemeine Zeitung (ref. Project Syndicate, 25. November 2020), 28. November 2020, Nr. 278, S. 20.

Der Erfolg von Ugur Sahin und Özlem Türeci mit ihrer Mainzer Firma BioNTech ist ein Erfolg für Deutschland, für die Welt und insbesondere für die Immigranten aus der Türkei – auch und gerade weil beide deutsche Staatsbürger sind, die in Deutschland aufwuchsen.

BioNTech ist weltweit das erste Unternehmen, das es geschafft hat, die Testserie mit zehntausenden von Probanden soweit zu bringen, dass es in der Lage ist, bei der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA eine Notzulassung als Impfstoff gegen Covid-19 zu beantragen. Nicht weniger als 95% der potenziell Infizierten sollen durch die höchst innovative und besonders sichere Impfung auf der Basis genmanipulierter RNA wirksam vor der Krankheit geschützt werden. Die amerikanische Zulassung wird für den 10. Dezember erwartet. Die Zulassung der britischen Behörden könnte sogar noch früher kommen.

Der scheidende US-Präsident Trump erweckt gerne den Eindruck, dass der große US-Konzern Pfizer den Impfstoff entwickelt habe. Aber Pfizer ist nur ein kompetenter Partner, der insbesondere bei den massenhaften Tests, bei der Massenproduktion und beim Vertrieb mit seinem Netzwerk behilflich ist. Der Impfstoff selbst wurde in Deutschland von BioNTech entwickelt und wird zum Teil auch in Fabrikationsstätten von BioNTech produziert.

Sahin ist nicht der einzige, der diese Impfmethode wählt. Die Tübinger Firma CureVac, die mit Wacker Chemie zusammenarbeitet,  oder die US-amerikanische Firma Moderna sind potente Konkurrenten. Er hat aber die Nase derzeit vorn.

Sahin ist eigentlich Onkologe und hat daran gearbeitet, die RNA-basierte Behandlungsmethoden gegen den Krebs zu entwickeln, die das Potenzial haben, die sehr belastende Chemotherapie zu ersetzten.. Die Grundidee dabei ist, dass die genmanipulierte RNA die Zellen veranlasst, Antikörper zu produzieren, die  maßgeschneidert zum jeweiligen Krebs passen. So gesehen, öffnet sich mit dem neuen Impfstoff nicht nur die Möglichkeit, die Menschheit von der Geißel des Corona-Virus zu befreien, sondern auch die Krebsmedizin zu revolutionieren.

Deutschland war einmal die Apotheke der Welt, doch das ist lange her. Eine der letzten Trumpfkarten hatte Joschka Fischer verspielt, als er als hessischer Umweltminister der Firma Hoechst die Produktion von humanidentischem Insulin untersagte, weil dazu genetisch manipulierte Bakterien eingesetzt wurden. Das Patent wurde daraufhin von der französischen Firma Ely Lilly verwertet. Hoechst wurde später von Rhone-Poulenc übernommen, und heute wird das neue Insulin in den Räumen der ehemaligen Hoechstwerke vom französischen Großkonzern Sanofi produziert.         

Der Erfolg von Sahin und Türeci könnte den Wiederaufstieg der deutschen Pharmaindustrie einleiten, denn die genbasierte Forschung in der Onkologie ist nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland bereits weit fortgeschritten. Neben der Universität Mainz sind Forschungsstätten wie die LMU München oder die TU München hervorzuheben. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich aus der universitären Forschung weitere Unternehmensgründer herauslösen.

Der Erfolg zeigt nicht nur, wohin sich die Medizin entwickeln wird. Er beweist auch, welche Vorteile eine alternde Gesellschaft wie die deutsche durch die Immigration erzielen kann. Sahin lehrt als Professor an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Er ist in der Türkei geboren, kam als Kleinkind mit seinen Eltern nach Deutschland, wuchs hier auf und ist deutscher Staatsbürger. Sein Vater arbeitete bei den Ford-Werken in Köln. Seine Ehefrau Türeci ist Privatdozentin. Sie ist in Deutschland geboren und hat ebenfalls die deutsche Staatsbürgerschaft. Ihr Vater arbeitete als Chirurg an einem deutschen Krankenhaus.  

Es ist bezeichnend, dass die beiden Unternehmensgründer nun mit der US-amerikanischen Firma von Karl Pfizer zusammenarbeiten, der selbst ein Immigrant war. Pfizer war in Ludwigsburg geboren, emigrierte, wie so viele andere Deutsche nach der Revolution von 1848, in die USA und gründete dort sein Chemieunternehmen, das inzwischen das zweitgrößte der Welt ist. 

Heute wird bekanntlich viel Immigration durch die Segnungen des Wohlfahrtsstaates induziert. Jenen, die unterdurchschnittlich viel verdienen, wird zusätzlich zu ihrem Lohn ein Umverteilungsgeschenk gewährt, weil sie mehr an staatlichen Leistungen erhalten, als sie in Form von Steuern und Sozialabgaben bezahlen müssen. Diese Immigration ist problematisch genug, wie die Diskussionen der letzten Jahre klar gemacht  haben.

Sahin und Türeci zeigen jedoch, dass die Immigration immer auch eine andere Seite hat, weil sie einer Volkswirtschaft Talente und frische Kraft zuführt, vor allem auch in der zweiten und dritten Generation, wenn die Abkömmlinge der Migranten das deutsche Schulsystem durchlaufen haben und die Chancen der freien Universitätsausbildung haben nutzen können. Ein alterndes Land wie Deutschland braucht diese Kraft in besonderem Maße, weil es sonst zu Stagnation und Stillstand verdammt wäre.

In mancherlei Hinsicht ähnelt die Rolle der türkischen Immigranten von heute in Deutschland an die deutschen Immigranten im 19. Jahrhundert in den USA. Auch sie waren wie die Türken in Deutschland die bei weitem größte Gruppe unter den Einwanderern, und es handelte sich dabei beileibe nicht nur um „Fourty-eighters“ wie Pfizer, also Revolutionsflüchtlinge. Vielmehr waren die meisten Immigranten arme Schlucker, die in den USA ihr Glück suchten. In den Jahrzehnten nach der Entlassung aus der Leibeigenschaft unter Napoleon haben sie sich allzu oft in eine neue, manchmal Jahre währende Leibeigenschaft in den USA begeben, um so ihre Schulden für die Kosten der Überfahrt abzutragen. 

Auch die German Americans hatten in den USA stets einen schweren Stand, ähnlich wie die Emigranten aus der Türkei heute in Deutschland. Dennoch haben sie sich mit viel Fleiß und Disziplin im Laufe der Jahre emporgearbeitet und als feste Größe in der amerikanischen Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft etabliert. Inzwischen sind sie vollständig assimiliert.  

Ähnlich könnte es bei Türken in Deutschland passieren. Sie kamen nach dem Gastarbeiterabkommen aus dem Jahre 1960 in großen Scharen und holten ihre Familien nach. Immer mehr kamen, und immer intensiver wurde das türkische Leben. Viele Türken ballten sich in Clustern wie Berlin-Neukölln, Köln-Kalk, oder Offenburg, aber noch viel mehr sind über das ganze Land verteilt und leben insbesondere auch in den Kleinstädten des Landes. Die Immigration ebbte im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts wieder etwas ab und schlug  temporär sogar in eine Nettorückwanderung um; sie geht aber heute auf niedrigem Niveau weiter. Man zählt man etwa drei Millionen Menschen türkischer Abstammung in Deutschland, was mehr als 3% der hier ansässigen Bevölkerung entspricht. Das ist viel weniger als der Anteil der Deutschstämmigen in den USA, der noch beim letzten Zensus aus dem Jahre 2000 mit 15% veranschlagt wurde. Etwa die Hälfte der Personen mit einem türkischen Migrationshintergrund hat einen deutschen Pass, häufig zusätzlich zum türkischen.

In der deutschen Wirtschaft sind türkische Immigranten zu einer wichtigen Größe geworden, weil sie sich durch Fleiß und Verlässlichkeit hervortun. Insbesondere das Verarbeitende Gewerbe kann auf ihre Leistungen der türkischen Industriearbeiterschaft heute nicht mehr verzichten.

Verschweigen darf man nicht, dass die Kinder von Türken in den Schulen meistens leider nicht zu den erfolgreicheren Immigrationsgruppen gehören. Mehr als die Hälfte hat keine abgeschlossene Schul- bzw. Berufsausbildung. Dennoch kommen 14% der türkischen Schüler zum Abitur, und viele liefern dort Bestleistungen. Ugur Sahin war der erste türkische Schüler am Erich-Kästner-Gymnasium in Köln und zugleich der Jahrgangsbeste.  

Unter den Selbständigen ist die türkischstämmige Bevölkerung dank eines ausgeprägten Unternehmergeistes sehr gut repräsentiert. Türkische Unternehmer haben die Nischen beim Güterangebot erobert, die von deutschen Anbietern nicht mehr bedient werden oder noch nie bedient wurden. Es sind heute die Türken, die die kleinen Läden für alles und jedes noch aufrechterhalten, die die Schuhe reparieren, als Näher tätig werden, und den Handel betreiben. Aus dem Nahrungsmittelgewerbe, speziell aus der Lebensmittelbranche, sind sie nicht mehr wegzudenken. Aber auch Unternehmer wie Kemal Şahin, Gründer eines mittlerweile internationalen Konzerns mit einer Vielfalt von Handelsprodukten, Kaya Tigioglu mit der erfolgreichen Fensterfirma Isogon,  Süleyman Yüksel mit seiner Berliner Baufirma Batek oder Hüseyin Cifci mit seiner Eschborner Software-Firma haben von sich reden gemacht. Insgesamt schätzt man über 100.000 zumeist kleinerer mittelständischer Unternehmen, die eine halbe Million Arbeitnehmer beschäftigen.   

Auch in der Wissenschaft sind Sahin und Türeci keine Einzelfälle. In allen Disziplinen gibt es türkischstämmige Forscher, und sie tragen ihren Teil zum Fortschritt bei. Nennen kann man als Beispiele Professoren wie den Wirtschaftsinformatiker Sahin Albayrak, den Biopsychologen Onur Güntürkün, den Kommunikationsakustiker Ercan Altinsoy oder die Ökonomen Özgür Gürerk und Erdal Yalcin.  Es gibt mittlerweile viele Dutzende von türkischstämmigen Professoren und anderen Forschern in den deutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen.

Das alles kann über die Größe der Integrationsaufgabe und die vielfältigen kulturellen Probleme nicht hinwegtäuschen. Es zeigt aber, welches Potenzial sich hier gerade auch für die Stabilisierung der deutschen Wirtschaft auftut. Sahin und Türeci sollten zum Umdenken Anlass geben.

Nachzulesen auf www.faz.net und auf www.project-syndicate.org.