Deutschland sollte Italien ein großzüges Geldgeschenk machen

Die staatliche Rettungspolitik, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie abzufedern, hält Topökonom Hans-Werner Sinn zwar für richtig. Dennoch gehe Südkorea klüger vor als Deutschland.
Hans-Werner Sinn

Die Welt,  21. März 2020, S. 10

Für den Herbst erwartet er eine zweite schwierige Phase. Mit großer Sorge verfolgt Deutschlands Topökonom Hans-Werner Sinn die dramatischen Auswirkungen der Pandemie. Die Rettungsaktionen der GroKo hält der frühere Chef des Ifo-Instituts zwar für richtig. Allerdings zeige Südkorea, wie man das Virus mit viel geringeren Folgen für die Wirtschaft effektiv bekämpfen könne. Sinn fürchtet zudem, dass Brüssel die Krise nutzt, um die Transferunion zu vollenden.

Herr Professor Sinn, die Politik kündigt immer neue Hilfen für Unternehmen, Selbstständige, Beschäftigte oder Mieter an. Wie lange kann der Staat das durchhalten?

Manche Menschen sind der Auffassung, dass der Staat alle retten könne, weil der Staat die Grundlage der Wirtschaft sei. In Wirklichkeit ist es umgekehrt: Ohne die Wirtschaft gibt es keinen funktionierenden Staat. In der Pandemie ist es aber richtig, jetzt eine Rettungspolitik zu betreiben, um zu verhindern, dass gesunde Unternehmen und Branchen kaputtgehen, weil die Politik ihnen vernünftigerweise Quarantäne verordnet hat. Klar ist aber: Der Staat kann nicht das Sozialprodukt ersetzen, das jetzt als Folge der medizinisch nötigen Schritte wegbricht.

Wie stark wird der Wirtschaftseinbruch sein?

Das hängt von der Wirksamkeit der beschlossenen Einschränkungen ab. Ende April werden wir sehen, ob der Anstieg der Zahl der Todesfälle gebremst werden konnte. Wenn das gelingt, kann sich die Wirtschaft danach wieder allmählich normalisieren. Wenn das Bruttoinlandsprodukt für zwei Monate um ein Drittel schrumpft und danach für den Rest des Jahres wieder normal läuft, ergibt sich ein Minus von etwa fünf Prozent. Ob die Krise nur zwei Monate anhält, ist aber sehr ungewiss. So oder so werden uns schon die jetzt auf den Weg gebrachten Maßnahmen sehr viel Geld kosten. Eine weitere schwierige Phase könnte uns im Herbst und Winter bevorstehen.

Warum?

Weil die Virologen für den Herbst wieder steigende Fallzahlen befürchten. Dann käme es erneut zu gravierenden Einschränkungen. Das würde den Staat an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit bringen, weil er schon zuvor so viel Geld ausgegeben hat. Es ist deshalb zu erwägen, die Quarantänepolitik zu verfeinern, ähnlich wie Südkorea es tat. Dann hat man sowohl mehr medizinische Erfolge als auch weniger wirtschaftliche Einbußen.

Inwiefern?

Die Koreaner setzen viel stärker auf individuelle Überwachung. Sie haben eine riesige Testmaschinerie aufgebaut, um die medizinischen Brandherde zu finden und gezielt in Quarantäne zu bringen. Zugleich überwachen sie die Kontakte der infizierten Menschen, um die Verbreitung des Virus gezielt zu unterbinden. Wer infiziert ist, hat in Korea nur die Wahl, in eine harte Quarantäne zu gehen oder aber sich umfassend kontrollieren zu lassen. Dieses Vorgehen ist für die Wirtschaft weitaus weniger einschneidend als unser Vorgehen in Deutschland. Die deutsche Methode könnte zwar leidlich funktionieren, ist aber verbesserungsfähig.

Riskiert die Regierung mit ihren Rettungsversprechen die wirtschaftliche Stabilität?

Die Stabilität wird durch das Virus bedroht. Die von der Bundesregierung angekündigten Rettungsmaßnahmen sind adäquat und leisten einen erheblichen Beitrag zur
Stabilisierung in schwieriger Zeit. Das Kurzarbeitergeld (https://www.welt.de/themen/kurzarbeit/) hat sich schon in der Finanzkrise 2008/2009
(/wirtschaft/article206524649/Coronavirus-Lehren-aus-der-Finanzkrise.html) als effektiv erwiesen. Auch die Hilfen für Unternehmen sind wohlproportioniert. Was der Staat
machen kann, hat er damit gemacht. Nicht beurteilen kann ich, ob schon genug staatliches Geld bereitsteht für die Forschung nach Impfstoffen sowie für die Produktion von Schutzausrüstung, Beatmungsgeräten, Masken und so weiter, die jetzt Tag und Nacht laufen muss. Und auch für den Ausbau der Krankenhauskapazitäten. Mit Geld kann man hier eine ganze Menge machen. Absurd wäre es aber, allen Bürgern jetzt einen Geldbetrag zu schenken, wie das manche fordern. Wenn die Epidemiologen Transaktionsverbote fordern, kann die Politik die Transaktionen nicht mit Geldgeschenken fördern. Kurzum: Die Leute sollen ja zu Hause bleiben, anstatt sich in den Läden anzustecken. Deswegen wurden in Europa ja viele Läden geschlossen.

Die USA und andere Länder machen aber genau das.

Das ist medizinisch und ökonomisch falsch. Der Grund dafür, dass die USA es machen, ist, dass sie öffentlichen Aufruhr fürchten, wenn die Leute ihren Job verlieren und nicht vom Sozialstaat aufgefangen werden. Der deutsche Sozialstaat funktioniert dagegen auch in Krisenzeiten. Und für die anderen europäischen Länder gilt das ebenfalls, obwohl nicht alle das gleiche Leistungsniveau haben wie wir.

Vor allem Italien, aber auch Spanien und Portugal haben jedoch enorme Probleme.

Was die Verbreitung des Virus angeht, befürchten einige, dass wir Italien nur zeitversetzt hinterherlaufen. Der italienische Staat ist allerdings hoch verschuldet und kann deshalb weniger gegen die Krankheit tun. Deutschland sollte als Zeichen der Solidarität Italien ein großzügiges Geldgeschenk machen, damit die Finanznöte des Staates gelindert werden. Ich habe vorgeschlagen, dass die Bundesregierung Italien unilateral und ohne Auflagen 20 Milliarden Euro schenkt.

Muss die EU in dieser Ausnahmesituation nicht gemeinsam und viel entschlossener handeln?

Hilfen für Nachbarn sind angebracht, aber nicht über Leistungsmechanismen, die Rechtsansprüche begründen, schon gar nicht über die EU, die sich dann bei der Verteilung des deutschen Geldes auf die Brust klopfen kann. Ansonsten muss jeder sehen, dass er seine Kranken versorgt. Viele Ökonomen und Politiker wollen die Krise nutzen, um die Systeme der kollektiven Haftung zu etablieren, die sie schon lange gefordert, aber nicht haben durchsetzen können. Ich bin strikt dagegen, jetzt zur kurzfristigen Rettung Mechanismen einzuführen, die man später dann nicht wieder zurückführen kann. Manche fordern schon sogenannte Corona-Bonds oder andere Formen zur Vergemeinschaftung von Schulden (https://www.welt.de/themen/schulden/) wie eine europäische Einlagensicherung. Wir müssen aufpassen, jetzt in der Krise nicht in ein europäisches System der Vergemeinschaftung zu geraten. Das Haftungsprinzip muss erhalten bleiben.

Haben Sie Vertrauen in die EU und in die Kommission, dass sie dem Druck nach solchen weitreichenden Schritten widersteht?

Nein, es gibt in der EU zu viele Kräfte, die eine dauerhafte Umverteilung anstreben.

Sollte die Europäische Zentralbank (EZB) mehr tun, etwa die Zinsen weiter drücken?

Die EZB hat ihr Pulver verschossen, weil sie an der Null-Zins-Grenze hängt. Der frühere Zentralbankchef Mario Draghi hat leider ohne Not viel zu lange seine ultralockere Geldpolitik betrieben und viel mehr Geld in Umlauf gebracht, als von der Wirtschaft gebraucht wurde, indem er das Euro-System viele Staatspapiere hat kaufen lassen. Das war bereits ein Riesenschritt zur Vergemeinschaftung der Schulden.

Jetzt hat die EZB ihr Anleihekaufprogramm noch einmal massiv ausgeweitet. Hilft das Anschmeißen der Notenpresse?

Eine weitere Aufblähung der Geldmenge für den Kauf von Staatspapieren hilft zunächst einmal den Banken, die sie halten. Ich denke hier vor allem an die französischen Banken, die den Löwenanteil der italienischen Staatspapiere in ihren Portefeuilles haben. Insofern wird das Finanzsystem stabilisiert. Viel wichtiger wäre, viel Geld für die notwendigen medizinischen Maßnahmen auszugeben. Auch wäre es wichtiger, die Realwirtschaft zu retten. Die Rettung der Banken kommt für mich erst an dritter Stelle. Sie wird wohl notwendig werden, aber ich empfehle, dass sich die Staaten dieser Aufgabe annehmen und sich zum Ausgleich Aktien geben lassen

Die Börsen sind weltweit in Panik. Warum ist die Korrektur so extrem?

Die jahrelange Politik des billigen Geldes hatte eine Blase auf den Aktienmärkten entstehen lassen, die auch bei anderen Erschütterungen als der Corona-Krise geplatzt wäre. Die Kursentwicklung hatte sich immer weiter von der Entwicklung der Realwirtschaft entfernt und wurde nur noch durch die Fluchtreaktion der Anleger aus den festverzinslichen Anlagen erklärt. Draghis Geldpolitik hatte den Anlegern Scheinerträge beschert, die nun verpufft sind.

Nicht nur Deutschland geht mit den Rettungsaktionen in die Vollen. Weltweit haben Regierungschefs extrem große Summen für Nothilfen auf den Tisch gelegt. Droht auf globaler Ebene ein nie da gewesener Schuldenexzess?

Ja, es wird einen riesigen Schuldenschub geben. Und in Europa droht zudem mit der Einführung neuer Instrumente eine Vergemeinschaftung der Schulden. Die „Corona-Bonds“ habe ich erwähnt. Wenn wir jetzt alles über Staatsschulden finanzieren, die am Ende dann abermals wie schon in den letzten Jahren mit frisch gedrucktem Geld abgelöst werden, besteht die Gefahr, dass sich die Geschichte wiederholt und wir zur Beseitigung des mittlerweile riesigen Geldüberhangs zum Schluss, ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg und der Spanischen Grippe, eine heftige Inflation kriegen. Und wenn es keine Inflation gibt, dann drohen politische Mechanismen, durch die der Geldüberhang zulasten der Sparer und Geldhalter beseitigt wird.

 

Das Interview führte Dorothea Siems.

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