Die heimlichen Kredite

Hans-Werner Sinn über die Rolle der Notenbanken bei der Finanzierung schwacher Euro-Länder.
Hans-Werner Sinn

Handelsblatt, 6. Mai 2011, Nr. 88, S. 72.

Warum mussten Griechenland, Irland und Portugal unter dem Rettungsschirm der Europäischen Union Schutz suchen, und warum munkelt man auch, dass Spanien bald so weit sein könnte?

Für viele liegt die Antwort auf der Hand: Die internationalen Märkte wollen die "GIPS"-Länder nicht mehr länger finanzieren. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn zumindest Griechenland, Irland und Portugal wurden schon drei Jahre lang praktisch nicht mehr von den Märkten finanziert, sondern von der Europäischen Zentralbank. Anhand der sogenannten Target-Konten, die bisher von den Medien ignoriert wurden, lässt sich erkennen, dass die EZB weit mehr als bisher bekannt an Rettungsaktionen beteiligt war.

Aber jetzt hat die EZB kalte Füße bekommen und will aussteigen. Deshalb drängt sie die Mitglieder der Euro-Zone, mit dem neuen European Stability Mechanism (ESM) an ihre Stelle zu treten und sich um die schwachen Länder zu kümmern.

Normalerweise wird das Leistungsbilanzdefizit eines Landes durch einen Zufluss von privatem Kapital aus dem Ausland finanziert. In einer Währungsunion allerdings können, wenn der private Kapitalfluss nicht ausreicht, Kredite der Zentralbank diese Rolle übernehmen. Genau dies ist in der Euro-Zone passiert, als Mitte 2007 erstmals der Interbankenmarkt zusammenbrach.

Die Zentralbanken der GIPS-Länder liehen ihren Privatbanken in großem Umfang Geld zur Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite. Das Geld floss in die Exportländer, wo es dann weiterhin zirkulierte. Die Zentralbanken der Exportländer reagierten darauf, indem sie den eigenen Geldverleih an die nationale Wirtschaft reduzierten. Im Endeffekt änderte sich die Geldmenge zwar nicht. Doch die Zentralbanken der Exportnationen wurden praktisch gezwungen, Kredite an andere Länder zu geben, mit denen diese ihre Importe bezahlen konnten. Die Zentralbanken der Exportländer, allen voran die Deutsche Bundesbank, erhielten dafür zwar verzinsliche Forderungen gegen die EZB, doch fehlte der Kredit im eigenen Land.

Die Höhe dieser Kredite wird durch das "Target2"-Konto angezeigt. Ein Defizit im Konto eines Landes zeigt eine Kreditaufnahme über die EZB an, ein Überschuss eine Kreditvergabe über die EZB an das Ausland.

Bis Mitte 2007 lagen die Target-Konten in der Nähe von null. Danach wuchsen sie um jährlich etwa 100 Milliarden Euro. Die Target-Forderungen der Bundesbank beispielsweise explodierten von fünf Milliarden Euro im Jahr 2006 auf 323 Milliarden im März 2011. Als Gegenstück zu diesen Forderungen wuchsen die Schulden der GIPS-Länder bis Ende letzten Jahres auf etwa 340 Milliarden Euro. Interessanterweise liegt das kumulierte Leistungsbilanzdefizit der GIPS-Länder von 2008 bis 2010 in fast derselben Größenordnung - nämlich bei genau 365 Milliarden Euro. Bei genauerem Hinsehen stellt man freilich fest, dass Irland sich im Übermaß über die Target-Kredite verschuldet hat, während Spanien deutlich zurückhaltender war.

Man sollte die EZB nicht grundsätzlich dafür kritisieren, dass sie den GIPS-Ländern in der großen Rezession von 2009 unter die Arme griff. Doch jetzt, da sich die Weltwirtschaft weitgehend wieder von der Krise erholt hat, ist es Zeit, diese Vorgehensweise zu beenden - nicht zuletzt deshalb, weil der EZB die Munition ausgeht. Ende letzten Jahres betrug der Gesamtgeldbestand der Zentralbanken in der Euro-Zone 1,07 Billionen Euro, und 380 Milliarden davon entfielen bereits auf die EZB-Kredite an die GIPS-Länder.

Die EZB möchte die Finanzierung der GIPS-Länder nun dem Luxemburger Rettungsschirm der EU übergeben. Die EU sollte sich diesen Fonds aber für echte Notfälle aufsparen. Und die EZB sollte ihre Mitgliedsinstitutionen in den GIPS-Ländern anweisen, für die Kreditvergabe deutlich bessere Sicherheiten zu verlangen. Obergrenzen für die Target-Salden wären ein adäquates Mittel, die rechtzeitige Erhöhung der Sicherheitsstandards durchzusetzen. Um die Leistungsbilanzdefizite unter Kontrolle zu halten, sind Obergrenzen für die Target-Konten jedenfalls ordnungspolitisch besser geeignet als staatliche Eingriffe in die Lohnbildung; diese Art von Dirigismus ist nur für Planwirtschaften angebracht.

Die GIPS-Länder sollten sich Italien als Beispiel nehmen. Obwohl das Land Zinsaufschläge zahlen musste und ein Leistungsbilanzdefizit aufgebaut hatte, hielt Mario Draghi (der führende Bewerber für die Leitung der EZB im Herbst) die Kreditaufnahme seiner Zentralbank in engen Grenzen.

Der Autor ist Professor an der Uni München und Präsident des ifo Instituts.