Warum die Energiewende ohne Atomkraft nicht gelingen wird

Der Streit um die Taxonomie in Brüssel zeigt: Deutschland braucht einen konventionellen Kraftwerkspark, um seine Stromversorgung zu sichern. Ein Gastbeitrag.
Hans-Werner Sinn

WirtschaftsWoche, 11. Februar 2022, Nr. 7, S. 39.

Der Streit um die Taxonomie in Brüssel zeigt: Deutschland braucht einen konventionellen Kraftwerkspark, um seine Stromversorgung zu sichern.

Die Entscheidung der EU-Kommission steht nun fest: Atomstrom wird als grün deklariert. Wenn nicht zwei Drittel der Stimmen des Ministerrates und die Hälfte der Stimmen des Europaparlaments dagegen aufgebracht werden, wird die Entscheidung zu einer bindenden EU-Verordnung.

Die Grünen, die aus der Anti-Atomkraft-Bewegung entstanden sind, kochen angesichts dieser Entscheidung, weil sie sich hinters Licht geführt fühlen. Aus ihrer Sicht rehabilitiert Brüssel nicht nur eine verfemte Energieform, sondern adelt sie auch noch als nachhaltige Kraftquelle. Größer hätte die Schmach nicht sein können.

Bei der Farbenwahl der Europäischen Union geht es nicht um Schönheit, sondern um ein hartes Geschäft, denn Firmen, die Produkte herstellen, die die EU als grün tituliert, werden sich in Zukunft zu niedrigeren Zinsen finanzieren können als andere. Dafür sorgt das Zusammenspiel der Kommission mit der Europäischen Zentralbank (EZB), die die grünen Schuldpapiere zu günstigen Konditionen kauft oder in Zahlung nimmt. Dies führt zu einer massiven Umlenkung der Kapitalströme zulasten der traditionellen Industrien – und damit auch zu einer Umlenkung dieser Ströme nach Frankreich, das in Europa den meisten Atomstrom herstellt. Einen Vorwurf kann man Frankreich dafür aber nicht machen: Zum Geisterfahrer der internationalen Energiepolitik hat sich Deutschland unter dem Druck heimischer Schöngeister von ganz allein verwandelt.

Viele Geisterfahrten enden mit schweren Unfällen. Wie riskant die Situation für Deutschland geworden ist, zeigt sich aktuell im Russland-Ukraine-Konflikt und im Streit um die Gaspipeline durch die Ostsee. Durch den Ausstieg aus der Kernkraft hat sich Deutschland noch stärker von Putins Gaslieferungen abhängig gemacht und wird so zum Spielball der Großmächte.

US-Präsident Joe Biden sagte in der Pressekonferenz mit Olaf Scholz vor ein paar Tagen, er werde die Nordstream-II-Pipeline abschalten, wenn Putins Russland in die Ukraine einmarschiere. Und auf die Frage eines Journalisten, wie er das durchsetzen wolle, sagte er augenzwinkernd, man werde schon sehen, dass er die Macht dazu habe. Der Kanzler stand ohnmächtig daneben und schwieg. Bidens Äußerung ist ein Angriff auf die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland und im Grunde eine Ungeheuerlichkeit, die sich Deutschland nicht bieten lassen sollte.

Die Grünen versuchen nun, aus der Not eine Tugend zu machen, indem sie das Argument vorbringen, der drohende Krieg zeige, wie wichtig es sei, mithilfe erneuerbarer Energien autark zu werden. In diesem Argument liegt natürlich ein Körnchen Wahrheit. Aber es ist auch eine gefährliche Halbwahrheit.

Tatsächlich kann man mit der grünen Energie nicht autark werden, weil sich Wind- und Sonnenstrom ohne konventionelle, regelbare Kraftwerke überhaupt nicht verwerten lassen. Da die grünen Kraftwerke in den Dunkelflauten – das sind häufig die Wochen nach den Weihnachtstagen, aber auch längere Perioden während anderer Jahreszeiten – nicht in der Lage sind, Strom zu liefern, braucht Deutschland weiterhin regelbare Stromquellen vom Volumen des gesamten bereits vorhandenen konventionellen Kraftwerksparks in Deutschland.

Und wenn der Stromsektor wie geplant auch noch auf den Verkehr und die Gebäudeheizung ausgedehnt werden soll, muss auch der konventionelle Kraftwerkspark wachsen. Es ist nun einmal ein Faktum, dass der grüne Strom als Komplement zwingend entweder Strom aus fossilen Quellen oder Atomstrom benötigt.

Teurer Strohhalm Wasserstoff

Da Deutschland sowohl aus der Kohle als auch aus dem Atomstrom aussteigen will, käme dafür nur noch das Gas infrage, wenn nicht andere Länder aushülfen. Zum Glück gibt es ja noch den französischen Atomstrom. Offenbar baut die deutsche Politik klammheimlich darauf, dass dieser künftig über die Grenze fließt, um bei uns die wachsenden Stromlücken zu schließen.

Fast alle Rechenmodelle, die von den grünen Instituten der Republik zur Beschreibung der neuen Energiewirklichkeit vorgelegt wurden, nehmen an, dass der Strom nötigenfalls aus dem europäischen Stromverbund stammt. Der Strom aus den Atommeilern der Nachbarn ist dann der Deus ex Machina, der trotz der Flatterhaftigkeit des grünen Stroms Versorgungssicherheit herstellt.

Als Strohhalm steht allerdings auch noch der Wasserstoff zur Verfügung, der sich zur Stromspeicherung und Glättung des schwankenden Wind- und Sonnenstroms eignet. Nur sollte man keine Illusionen haben, wie schwierig das wird. Die Schleife vom Strom über den Wasserstoff zurück zum Strom vernichtet derzeit drei Viertel der Energie. Und die Elektrolyseanlagen kommen nicht gut mit dem launigen Energiefluss aus Wind- und Sonnenstrom zurecht. Dies macht den Weg in die Wasserstoffwirtschaft so extrem teuer, dass er nur auf der Basis eines gleichmäßigen Stromflusses aus Atommeilern wirtschaftlich werden kann.

Auch den atomgrünen Wasserstoff werden wir beim Versuch, energiepolitisch autark zu werden, am Ende wohl vor allem aus Frankreich beziehen müssen.
 

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