Warum Europa automatische Haircuts braucht

Internetartikel von Hans-Werner Sinn, Project Syndicate, 25.02.2011

MÜNCHEN – Nachdem die Länder der Europäischen Union bereits zugestimmt haben, die Darlehenskapazität ihres Luxemburger Fonds (EFSF) zur Rettung notleidender Staaten zu verdoppeln, diskutieren sie jetzt über die Bedingungen, unter denen die Gelder dieses Fonds zur Verfügung gestellt werden. Die entscheidende Frage ist, bis zu welchem Grad sich die Gläubiger an Rettungsmaßen mit „Haircuts“, also Teilverlusten ihrer Forderungen, beteiligen müssen.

Vertreter von überschuldeten Ländern und von Ländern, deren Banken als Gläubiger stark exponiert sind, argumentieren, Haircuts würden das europäische Finanzsystem destabilisieren, indem sie Ansteckungseffekte erzeugen, die einer zweiten Lehman-Brothers-Krise gleichkommen. Doch die EEAG, ein europäischer Sachverständigenrat mit Ökonomen aus sieben Ländern, hat diese Ansicht in seinem letzten Bericht, der soeben in Brüssel veröffentlicht wurde, zurückgewiesen.

Die Gruppe argumentiert, eine Lehman-ähnliche Krise könne aus dem einfachen Grund nicht passieren, weil sie bereits passiert ist. Im Oktober 2008, einen Monat nach dem Zusammenbruch von Lehman, einigten sich die G-8-Länder darauf, alle systemrelevanten Banken zu retten, und sie errichteten weltweit Rettungsschirme in Höhe von 4,9 Billionen EUR (6,7 Billionen USD). Diese Rettungsschirme sind heute großenteils noch intakt. Sollte eine systemrelevante Bank aufgrund eines Zahlungsausfalls bei Staatspapieren in Schwierigkeiten geraten, stehen die erforderlichen Rettungsmittel prompt zur Verfügung. Ein weiterer Zusammenbruch des Interbankenmarkts ist daher äußerst unwahrscheinlich.

Stattdessen sieht der Sachverständigenrat das wahre Risiko für Europa in der Rückkehr zu den weichen Budgetbeschränkungen im privaten und öffentlichen Sektor, die zur Überhitzung der südlichen und westlichen Peripherie des Kontinents führten und riesige Handelsungleichgewichte entstehen ließen. Haircuts würden dieses Risiko eindämmen, indem sie eine Ausspreizung der Zinsen nach der Kreditwürdigkeit des jeweiligen Landes bewirken – das Mittel, mit dem Märkte Schuldner zur Disziplin zwingen.

Der Bericht räumt ein, dass Hilfen ohne Haircuts sinnvoll sind, wenn es sich um eine reine Liquiditätskrise handelt, die aufgrund einer Fehlfunktion der Märkte entstanden ist. Er betont aber, dass Haircuts unentbehrlich für die Stabilität des europäischen Finanzsystems sind, wenn eine Solvenzkrise vorliegt. Haircuts sind deshalb ein zentraler Bestandteil des detaillierten Krisenmechanismus, den die Gruppe als Masterplan für eine neue europäische Finanzordnungspolitik entwickelt (siehe http://www.cesifo-group.de/DocDL/eeag_report_chap2_2011.pdf).

Der vorgeschlagene Mechanismus unterscheidet zwischen Illiquidität, drohender Zahlungsunfähigkeit und vollständiger Zahlungsunfähigkeit. Wenn ein Land Zahlungsprobleme hat, wird in den ersten beiden Jahren von einer reinen Liquiditätskrise ausgegangen. Es stehen großzügige Finanzhilfen zur Verfügung, um diese Krise zu lösen. Besteht die Krise fort, tritt das Land automatisch in den Zustand der drohenden Zahlungsunfähigkeit ein, bei dem Hilfsmittel erst nach einem Haircut der jeweils fällig werdenden Schulden in Höhe von 20% bis 50 % verfügbar werden. Der Restwert der fälligen Staatsanleihen wird in diesem Fall in Ersatzanleihen umgewandelt, die von dem betroffenen Land selbst zur Verfügung gestellt, aber vom Luxemburger Fonds zu 80% verbürgt sind. In der Bürgschaft liegt die Hilfe.

Erst wenn eine Bürgschaft fällig wird, wird die vollständigen Zahlungsunfähigkeit festgestellt, und erst dann steht die gesamten Staatsschuld zur Disposition. Bei diesem System tragen die Käufer der Staatsanleihen zwar noch ein Risiko, doch ist der Maximalverlust auf 60 % des Investitionsvolumens beschränkt. Diese Verlustbeschränkung macht die Staatsanleihe schon bei einem begrenzten Zinsaufschlag attraktiv.

Der vorgeschlagene Krisenmechanismus wirkt wie eine Teilkaskoversicherung gegen Insolvenz. Die Versicherung verhindert, dass im Krisenfall Panik entsteht, doch der Selbstbehalt erzeugt Vorsicht bei der Kreditvergabe und verringert die Wahrscheinlichkeit einer Krise schon im Vorhinein.

Gegen Haircuts wird manchmal zu Felde geführt, dass sogar der Internationale Währungsfonds bei seinen Hilfsaktionen häufig auf sie verzichtet hat. Sanktionsbewehrte Auflagen, so wird behauptet, könnten ebenfalls Schuldendisziplin herstellen.

Dieses Argument ist im europäischen Fall nicht besonders überzeugend. Zum einen hat das Scheitern des Stabilitäts- und Wachstumspakts ernsthafte Zweifel aufkommen lassen, ob politische Schuldenbeschränkungen jemals eingehalten würden, wenn sie nicht vom IWF selbst auferlegt und kontrolliert werden.

Zum anderen hat der IWF normalerweise Ländern geholfen, die über eine eigene Währung verfügten und somit durch Wechselkursanpassungen vor den destabilisierenden Wirkungen exzessiver internationaler Kapitalbewegungen geschützt waren. Einerseits fließt bei flexiblen Kursen wegen des Anlagerisikos nicht so viel Kapital, andererseits kann der Kapitalfluss die Ökonomie eines Landes nicht sonderlich stören.

Wenn nämlich Kapital in ein bestimmtes Land fließt, wird dessen Währung aufgewertet. Das kühlt den Exportsektor und schafft ein Gegengewicht gegen den Boom der Bauwirtschaft, der durch den Kapitalzufluss zustande kommt. Umgekehrt führt die Abwertung der Währung des kapitalexportierenden Landes zu einem Exportboom, der die binnenwirtschaftliche Investitionsschwäche, die mit dem Kapitalabfluss verbunden ist, kompensiert. Flexible Wechselkurse dienen somit als ein Mittel zur Selbststabilisierung, das kapitalimportierende Länder vor einer Überhitzung und kapitalexportierende Länder vor einer langanhaltenden Flaute schützt.

Ein Ähnlicher Mechanismus ist in einer Währungsunion wie dem Euroraum nicht verfügbar. Dort führen Kapitalzuflüsse zu einer Spekulationsblase auf den Immobilienmärkten, die die einheimische Wirtschaft heiß laufen lassen und die Löhne und Verbraucherpreise übermäßig in die Höhe treiben. Wenn die Blase platzt, kann das betroffene Land die Wettbewerbsfähigkeit nur durch den schmerzhaften Prozess einer realen Abwertung wiederherstellen. Seine Löhne und Preise müssen denen seiner Konkurrenten jahrelang hinterherhinken, während seine Wirtschaft einen verlängerten Konjunkturrückgang erlebt, bis ein neues Gleichgewicht gefunden wird. Und das kapitalexportierende Land wird angesichts nur mäßig flexibler Löhne und Preise schon im Vorhinein in eine jahrelange realwirtschaftliche Flaute getrieben. Deutschland kann ein Lied davon singen.

Aus diesem Grunde ist es schlechterdings unmöglich, eine Währungsunion eigenständiger Länder ohne einen Mechanismus zur Eindämmung von Schuldenexzessen zu betreiben. Der Euroraum braucht dringend einen Krisenmechanismus mit Haircuts, die im Fall drohender Zahlungsunfähigkeit automatisch aktiviert werden. Die Ausspreizung der Zinsen nach der Bonität der Schuldner, die dadurch bewirkt wird, muss die Rolle des fehlenden Wechselkursmechanismus übernehmen. Wer glaubt, er könne auf dieses Instrument verzichten zu können, ohne dass bereits ein europäischer Nationalstaat unter Aufgabe der einzelstaatlichen Souveränität etabliert ist, spielt ein gefährliches Spiel.

Hans-Werner Sinn ist Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität München und Präsident des ifo Instituts.

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