Die Fallstricke der neuen Geldpolitik

Das geplante „symmetrische“ Inflationsziel der EZB ist ein Instrument, um den Ausstieg aus der expansiven Geldpolitik hinauszuzögern.
Hans-Werner Sinn

WirtschaftsWoche, 16. Juli 2021, Nr. 29, S. 41.

Das Treffen der Europäischen Zentralbank (EZB) am 22. Juli wird einer der spannendsten geldpolitischen Termine seit Langem. EZB-Chefin Christine Lagarde hat „interessante Variationen und Veränderungen“ angekündigt – und es dürfte auch um die jüngst verkündete Modifikation des Inflationsziels gehen. Die Notenbank will sich von ihrem langjährigen Ziel verabschieden, die Inflationsrate des Euroraums „unter, aber nahe“ zwei Prozent zu halten. Offenbar lautet die geldpolitische Devise fortan: Wenn ein Ziel mit den bisherigen Anstrengungen nicht erreichbar ist, ändert man das Ziel – statt sich mehr anzustrengen, um es zu erreichen.

Der Grund dafür ist leicht auszumachen. Im Mai betrug die Inflationsrate des Euroraums gegenüber dem Vorjahresmonat bereits 2,0 Prozent, in Deutschland lag sie gar bei 2,4 Prozent. Allgemein wird befürchtet, dass die Werte in den nächsten Monaten weiter ansteigen.

Doch inwieweit darf die EZB ihre Ziele überhaupt verändern? Die Notenbank verfügt nicht über eine „Kompetenz-Kompetenz“, wie es Juristen nennen, sondern muss ihre vertraglichen Vorgaben erfüllen. Schon in der Vergangenheit hat die EZB den ihr vorgegebenen Zielrahmen stark strapaziert. Im Maastrichter Vertrag heißt es eindeutig: „Das vorrangige Ziel des ESZB ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten.“ Und Preisstabilität im engeren Sinne heißt nun mal null Prozent statt zwei Prozent. Davon ist schon lange keine Rede mehr in den Verlautbarungen der EZB.

Die Zweiprozentmarke ließe sich als Obergrenze hinnehmen, weil man Punktlandungen sowieso nicht schafft. Oder weil es besser ist, ein bisschen über null Prozent als unter null Prozent zu bleiben und es überdies Messfehler bei der Berechnung der Inflationsrate gibt, die durchaus ein Prozent und mehr erreichen können. Wer wollte dagegen etwas einzuwenden haben?

Unter EZB-Präsident Mario Draghi wurde jedoch aus der Obergrenze eine Zielmarke. Plötzlich hieß es in den Verlautbarungen der EZB, sie nehme ihr „Mandat“ ernst, eine Inflation von knapp unter zwei Prozent anstreben zu müssen.

Den nächsten Schritt deutete Draghi 2019 auf seiner letzten Pressekonferenz vor der Amtsübergabe an seine Nachfolgerin Lagarde an. Danach soll die EZB ihr Inflationsziel „symmetrisch“ anstreben. Gemeint war wohl: Wenn die Preise zehn Jahre langsamer als um zwei Prozent gestiegen sind, dürfen sie anschließend zehn Jahre lang mehr als zwei Prozent zulegen.

Wenn die EZB künftig diese Strategie verfolgt und über Jahre eine über zwei Prozent liegende Inflationsrate als stabiles Preisniveau bezeichnet, wird der Vertrag nicht nur gedehnt, sondern gebrochen. Das läge auf der gleichen Ebene wie die Umdeutung der EU, die kürzlich ihr Mandat, einen in „Einnahmen und Ausgaben“ ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, mit einer Kreditaufnahme von mehr als 1000 Milliarden Euro kompatibel machte, indem sie aufgenommenes Fremdkapital kurzerhand als „Eigenmittel“ uminterpretierte.

Das kann man so nicht hinnehmen. Es geht bei der neuen EZB-Strategie schließlich nicht um Peanuts. Es geht um die Frage, ob sich die Notenbank rechtzeitig dazu durchringen wird, bei einer wieder erstarkenden Konjunktur und zunehmenden Inflationstendenzen – die allerorts zu spüren sind – den Fuß vom Gaspedal zu nehmen und eine Kehrtwende ihrer überaus expansiven Geldpolitik einzuleiten.

Vom Beginn der Finanzkrise Mitte 2008 bis Mitte 2021, also in nur 13 Jahren, ist die Zentralbankgeldmenge im Euroraum von knapp 900 Milliarden Euro auf knapp 5,8 Billionen Euro gestiegen. Sie hat sich also mehr als versechsfacht. Zieht man den wachsenden Geldbedarf aufgrund eines geringfügigen nominalen Zuwachses der Wirtschaftsleistung der Eurozone ab, der durch den Beitritt der baltischen Staaten, ein bisschen reales Wachstum und ein bisschen Inflation zustande kam, so beträgt der Geldüberhang heute 4,7 Billionen Euro. Das deutet auf erhebliche Inflations- gefahren hin, die die EZB eigentlich in den Blick nehmen und durch eine Rücknahme der Geldmenge verhindern müsste.

Meine Prognose ist aber, dass die EZB das nicht tun wird. Sie müsste dazu nämlich den Kauf von Staatspapieren und Papieren staatlicher Einrichtungen im Umfang von 3,5 Billionen Euro rückabwickeln oder selbst verzinsliche Spareinlagen zu einem Zins anbieten, der über dem Zins der erworbenen Staatspapiere liegt. Ersteres würde manche Staaten in Schwierigkeiten bringen, die mit höheren Zinsen nicht zurecht kommen. Es würde viele Banken straucheln lassen, die hohe Abschreibungsverluste auf ähnliche Papiere verbuchen müssten. Letzteres würde die nach Artikel 123 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEU) verbotene Staatsfinanzierung juristisch offenkundig machen. Denn die EZB würde Geld billiger verleihen, als sie es selbst aufnimmt.

Deshalb ist zu befürchten, dass der EZB-Rat der Diskussion darüber, wie sich die ausufernde Geldmenge jemals wieder verringern ließe, möglichst lange ausweicht – um bis dahin noch mehr Staatspapiere bei den Notenbanken abladen zu können.

 

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