Geldentwertung: Jetzt kommt der Schwall

Andreas Körner, Focus Money, 24. November 2021, Nr. 48., S. 6-12.

Die Teuerung schnellt hoch wie seit Jahrzehnten nicht. Das Nachsehen haben Verbraucher wie Sparer. Deutschlands Top-Ökonom Hans-Werner Sinn rechnet mit den dafür Verantwortlichen ab. Und warnt vor weiteren Gefahren für unser Finanzsystem.

“Die Inflationsbremse ist blockiert“

HANS-WERNER SINN, WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTLER UND BESTSELLER-AUTOR

Wenn Hans-Werner Sinn, langjähriger Chef des Münchner Ifo-Instituts, ein neues Buch vorlegt, provoziert er damit regelmäßig heftige Debatten. Deutsche Einheit, Globalisierung, Öko-Debatte – immer ist Deutschlands wohl prominentester Ökonom mit klaren Thesen und messerscharfen Analysen zur Stelle, im besten Fall, wenn es etwa um die Konstruktionsfehler des Euro geht, kann er dem Publikum sogar helfen, das Ersparte sicherer anzulegen.

In seinem jüngsten Werk nimmt er sich nun „Die wundersame Geldvermehrung“ vor. Lange hat er, wie etliche andere Fachleute, vor der Inflation gewarnt, jetzt ist sie da. Die Inflation steuert in Deutschland auf Werte zu, die es zuletzt in den Horrorjahren nach 1970 gegeben hat. Sinn beschreibt umfassend, welche Risiken dies für unser Finanzsystem mit sich bringt und erklärt, warum gegen die Geldentwertung momentan kein Kraut gewachsen ist. Seine Thesen lesen Sie auf den nächsten Seiten.

Besonders folgenschwere Problemfelder für die Euros der Bürger, wie die Targetsalden zu Deutschlands Nachteil in der Währungsunion oder die stark negativen Realrenditen, untersuchen wir in Extrakästen. In weiteren Teilen dieser Titelgeschichte zeigen wir detailliert auf, wie Anleger in der aktuellen Phase die Teuerung mit cleveren Investments kontern können: Auf Seite 13 beginnt ein Bericht über zwei Inflationsschutzdepots mit nur wenigen Einzelwerten, die allein seit Anfang 2019 bis zu 312 Prozent abgeworfen haben. Ab Seite 16 steht, warum Kryptowährungen wie der Bitcoin bei Inflation ebenfalls gewinnen und durch das sogenannte Staking sogar Zinsen von bis zu 14 Prozent jährlich abwerfen. Ab Seite 18 wird beschrieben, auf welche Weise Anleger am besten in den Inflationsklassiker Gold investieren, für das Analysten Preise von bis zu 4800 (!) Dollar aufrufen (aktuell: 1860 Dollar).

Die dramatische Ausgangslage

Die Situation bei der Preisentwicklung unterstreicht die Dringlichkeit des Themas – und sie ist besorgniserregend. Die offizielle Rate der Gelderosion ist im Oktober auf 4,5 Prozent gesprungen – der höchste Wert seit 28 Jahren. Kaum ersetzbare Produkte wie Brot, Gemüse oder Sprit haben sich noch viel stärker verteuert als der durchschnittliche Warenkorb, den das Statistische Bundesamt (Destatis) zugrunde legt.

Viele Menschen haben zudem das Gefühl, dass die offiziellen Inflationsraten mit ihrer Lebenswirklichkeit nichts zu tun haben. Tatsächlich ist für viele Konsumenten die „gefühlte Inflation“, die sich auch wissenschaftlich messen lässt, viel höher als die amtliche Preissteigerungsrate. Das kann daran liegen, dass sie manche Waren, deren Preise besonders stark gestiegen sind, öfter oder in einer größeren Menge kaufen als im Durchschnitt des Warenkorbs angenommen. Oder dass in Metropolregionen wie München oder Hamburg weit überdurchschnittliche Mieten anfallen.

Ketchup-Flaschen-Effekt

Was Sparer und Verbraucher hierzulande besonders sorgt, ist die Geschwindigkeit der aktuellen Preissteigerungen. Immerhin bewegte sich die Teuerung noch vor Jahresfrist im negativen Bereich, die EZB schürte gar Ängste vor der Deflation. Schon in der Vergangenheit trat dieses gefürchtete Phänomen aus dem Ökonomie-Lehrbuch, dass die Preissteigerungsraten zuerst längere Zeit niedrig bleiben und dann plötzlich in die Höhe schießen, regelmäßig auf. Das kann an externen Schocks wie rasant anziehenden Energiekosten liegen, die dann oft von Preissteigerungen bei anderen Produkten und Lohnerhöhungen dynamisiert werden (Stichwort: Zweitrundeneffekte). Genau das war in den Siebzigerjahren der Fall und deutet sich auch jetzt wieder an.

Das Geld schmilzt dahin

Deutsche Sparer trifft die Geldwert-Schmelze besonders hart, da hierzulande mit nur rund 50 Prozent die zweitniedrigste Wohneigentumsquote in ganz Europa vorliegt (zum Vergleich: im hoch verschuldeten Italien sind es mehr als 72 Prozent). Viele Menschen in Deutschland profitieren daher nicht von den explodierenden Immobilienpreisen. Zudem steckt ein großer Teil (rund 70 Prozent) des liquiden Vermögens in Kontengeldern, Anleihen oder Versicherungspolicen. Diese werfen kaum noch Zinsen ab und sind der Teuerung schutzlos ausgeliefert – unterm Strich wird das Geld entwertet. Bereits bei der aktuellen Inflationsrate von 4,5 Prozent bleiben nach zehn Jahren von 10 000 Euro kaufkraftbereinigt magere 6439 Euro übrig.

Gefahr dauerhafter Inflation

Die Europäische Zentralbank (EZB) wird zwar nicht müde zu beteuern, dass die Geldentwertung dieses Mal nur vorübergehender Natur sei. Woher ihre Präsidentin Christine Lagarde, eine ausgebildete Juristin, diese Gewissheit nimmt, bleibt unklar. Da wirkt es nicht sehr beruhigend, dass Lagarde bei einer Anhörung im Europaparlament Sätze sagt wie diesen: „Wir versuchen, der Inflation auf den Grund zu gehen und wirklich zu verstehen, was sie antreibt.“ Auch wir bei FOCUS-MONEY nehmen für uns keineswegs in Anspruch zu wissen, wie hoch die Teuerung in ein oder zwei Jahren sein wird. Wir werden aber weiter unten aus Hans-Werner Sinns Buch schlagkräftige Argumente zitieren, die dafür sprechen, dass die Geldentwertung nicht so schnell wieder verschwindet wie von der EZB postuliert. So viel schon vorab: Im September sind die Importpreise im Vorjahresvergleich um gigantische 17,7 Prozent gestiegen, die Erzeugerpreise für gewerbliche Produkte in Deutschland im Oktober sogar um 18,4 Prozent, das ist der höchste Wert seit 70 Jahren. Beides negative Vorboten für die zukünftige allgemeine Verbraucherinflation. Hinzu kommt der Rücktritt des Bundesbank- Präsidenten Jens Weidmann zum Jahresende, der zuletzt als einer der wenigen nationalen Vertreter im EZB-Rat das ursprüngliche und eigentliche Ziel der Notenbank, die Preise stabil zu halten, verteidigt hatte (siehe Seite 10). Zahlreiche Experten erwarten nun ein weiteres Aufweichen der Preisstabilitätsziele. Nicht ohne Grund schrieb Weidmann in seinem Abschiedsbrief an die Bundesbank-Mitarbeiter, dass bei der Europäischen Zentralbank „im andauernden Krisenmodus das Koordinatensystem der Geldpolitik verschoben“ worden sei und dass es entscheidend sei, „auch perspektivische Inflationsgefahren nicht aus dem Blick zu verlieren“.

Frühere Inflationsphasen? Wiederholt sich die Geschichte?

Fast 100 Jahre ist es her, dass Deutschland die dramatischste Geldentwertung seiner Geschichte erlebte. Der Versuch, die hohen Kriegsschulden aus der Notenpresse zu begleichen, mündete letztendlich in einer Hyperinflation, die erst durch eine Währungsreform 1923 gestoppt werden konnte. Dass die Deutschen solch eine Extremsituation nochmals durchleben müssen, davon geht auch Hans-Werner Sinn nicht aus. Mit größerer Besorgnis blickt er wie viele Ökonomen eher auf die Krise der 70er-Jahre, in der die durchschnittliche Inflationsrate per annum über fünf Prozent erreichte. Das ist vor allem deswegen bedenklich, da sich viele Parallelen zur aktuellen wirtschaftlichen Lage ziehen lassen. Aus Angst vor einer Erschöpfung der Rohstoff- und Energiereserven erhöhten die Ölförderländer den Ölpreis von 1970 bis 1974 auf das Neunfache. Der schwächte sich zwar bereits ein Jahr später wieder ab, doch schon von 1978 bis 1980 folgte der zweite Schock, indem sich der Preis abermals verdreifachte.

Unternehmen sahen sich durch die höheren Kosten gezwungen, ihr Angebot zu drosseln und mehr für Produkte zu verlangen, die bei ihrer Erzeugung große Energieressourcen verbrauchten. Das führte dazu, dass die Gewerkschaften lautstark für Lohnerhöhungen kämpften. So machte sich die Inflation in allen Sektoren breit und die teuflische Lohn-Preis-Spirale hatte begonnen. Von 1970 bis 1980 nahm der deutsche Preisindex für Lebenshaltung damit insgesamt um 65 Prozent zu. Zum Vergleich: Von 2010 bis 2020 verzeichnete dieser nur einen Anstieg von 13,5 Prozent – das sind gerade einmal 1,2 Prozent pro Jahr.

“Die mittelfristige Inflation wird weiterhin unter dem Ziel von zwei Prozent gesehen“
CHRISTINE LAGARDE, PRÄSIDENTIN DER EUROPÄISCHEN ZENTRALBANK

Zusammen mit der unverhohlenen Ansage der EZB, dass sie vorübergehend auch höhere Raten der Geldvernichtung akzeptieren will, weil man ja Jahre niedriger Teuerung hinter sich habe, beunruhigt das die Sparer und Konsumenten in der derzeitigen Lage noch mehr.

Negative Realzinsen - Die Opfer der EZB-Politik

Das Duo Infernale aus Niedrigzinsen und steigender Inflationsrate stürzte die Realrenditen im Oktober 2021 auf ein Rekordtief von –4,86 Prozent (Umlaufrendite –0,36 Prozent zuzüglich Inflationsrate 4,5 Prozent). Für Sparer bedeutet das: Von ihrem Geld sind nach fünf Jahren 21,1 Prozent verpufft, nach weiteren fünf sogar 37,8 Prozent. Wer also sein Geld etwa aufs Sparbuch legt, muss mit einer massiven Schmälerung seiner Altersvorsorge rechnen. Die Niedrigzinspolitik hat damit auch die Preise für Aktien und Immobilien in die Höhe schnellen lassen, auf die es in den letzten Jahren einen wahren Run gab. Schließlich hatte sich unter Sparern der Wunsch durchgesetzt, die wenig rentablen festverzinslichen Papiere durch Sachwertanlagen zu ersetzen.

Einigermaßen Glück gehabt haben Lebensversicherungskunden, die Altverträge zu einem erträglichen Garantiezins abgeschlossen haben. Doch im Extremfall kann es hier ebenfalls dazu kommen, dass manche Anbieter nicht die nötigen Ressourcen besitzen, diese Altlasten zu begleichen, und pleitegehen (wie im Japan der 1990er-Jahrte). Denn auch sie verfügen durch die negativen Zinsen nicht mehr über Anlagen, die die notwendige Rendite erwirtschaften könnten. Wenig besser ergeht es den Stiftungen in Deutschland, die ihr Kapital risikoarm anlegen müssen und zur Erfüllung ihres Zwecks nur die daraus erwirtschafteten Erträge selbst verwenden dürfen. Durch die negativen Realrenditen versiegen ihnen die Mittel, die unter anderem dazu vorgesehen sind, in Deutschland und dem Rest der Welt Hilfsbedürftige oder die Forschung zu unterstützen.

“Gemeinschaftsverschuldung für umfangreiche Transfers halte ich grundsätzlich für bedenklich“
JENS WEIDMANN, SCHEIDENDER BUNDESBANK-PRÄSIDENT

Krisen als Keimzelle der Geldflut

Diese gesamte Misere rund um Euro und Inflation hat laut Hans-Werner Sinn ihren Ursprung in Krisen der Vergangenheit und wie Europas Politiker und die EZB darauf reagiert haben. Er schreibt: „Seit 2007 ist Europa in der Dauerkrise. Erst schwappte die US-amerikanische Finanzkrise über den Atlantik. Dann platzte die inflationäre Blase, die der Euro in den Mittelmeerländern erzeugt hatte, und hinterließ nur noch Torsos einst halbwegs wettbewerbsfähiger Volkswirtschaften. Danach erfasste die Coronakrise die Welt und setzte zudem noch den ohnehin geschwächten Mittelmeerländern in besonderer Weise zu. Schließlich droht auch die deutsche Industrie, die unter den angeblich umweltpolitischen Vorgaben aus Brüssel besonders leidet, in einen Abwärtstrend zu geraten, der trotz der schnellen Erholung von der Coronakrise nicht zu übersehen ist.“

Die Politik und die Notenbank hätten versucht, die Krisen durch verschiedene geld- und fiskalpolitische Maßnahmen zu bekämpfen und zu überwinden – allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Trotz der Geldflut liege die Industrieproduktion in Frankreich um 15 Prozent unter dem Niveau von vor der Finanzkrise, in Italien um 20 Prozent und in Spanien sogar um 22 Prozent.

Bargeld - Die EZB und der digitale Euro

Für die Europäische Zentralbank (EZB) hagelt es zurzeit Kritik. Trotz der immer weiter steigenden Inflationsraten bleibt sie bei ihrer ultralockeren Geldpolitik. Ihre Präsidentin Christine Lagarde hält den Leitzins bei null. Deponieren Banken bei der EZB freie Mittel, fallen Strafzinsen an. Diese geben immer mehr Institute – in Deutschland mittlerweile rund 350 – an ihre Kunden weiter. Teils fallen die oft schönfärberisch „Verwahrentgelte“ genannten Minuszinsen schon ab 5000 Euro an. Bei den Bemühungen, die Zinsen noch weiter in die Minuszone zu drücken, gibt es laut Sinn jedoch einen großen Störfaktor: Bargeld. Das können die Bürger halten, ohne Strafzinsen zahlen zu müssen. Um dieses Ärgernis für die EZB zu beenden, gab es bereits mehrere Vorstöße. Nach der Abschaffung der 500-Euro-Scheine und der drastischen Senkung der Meldeschwelle für Bargeldtransaktionen (2000 Euro) in Deutschland sowie dem kompletten Verbot von Barzahlungen ab gewissen Betragshöhen in anderen europäischen Ländern soll nun der digitale Euro kommen. Dessen Zinsen können problemlos weiter in den Minusbereich gedrängt werden. Nicht nur Normalsparer wollen die Minuszinsen schon jetzt nicht akzeptieren, sondern auch die Banken. Seit 2014, als der Einlagenzins erstmals ins Negative rutschte, lagern sie immer mehr Bargeld in ihren Tresoren ein. Immerhin beträgt der Satz –0,5 Prozent jährlich. Die unten stehende Grafik zeigt eindrucksvoll, dass die Banken in der Euro-Zone seit diesem Zeitpunkt physisches Bargeld in einem wesentlich größeren Umfang halten. Im Mai 2021 lag der Bestand bei insgesamt 90 Milliarden Euro.

TARGET 2 - Ausgereizter Überziehungskredit

Über das Verrechnungssystem Target 2 werden grenzüberschreitende Zahlungen zwischen der EZB und den nationalen Zentralbanken abgewickelt. Die Salden geben die Forderungen und Verbindlichkeiten an, die bei den nationalen Notenbanken entstehen. Deutschland ist mit 1,03 Milliarden Euro (Stand August) der größte Gläubiger. Dementsprechend schnellten die Verbindlichkeiten der Krisenstaaten Griechenland, Italien, Portugal, Spanien, Irland und Zypern in die Höhe, die sich auf insgesamt 1061 Milliarden Euro belaufen. Der Mammutanteil entfällt dabei auf Spanien mit Verbindlichkeiten von 499 Milliarden Euro und Italien mit 472 Milliarden Euro. Erhöhte Targetsalden entstanden erst nach der Finanzkrise ab 2008. Die Entwicklung bis heute verlief in vier Phasen. Nach 2008 griffen die einzelnen Notenbanken in Phase I den Banken der Krisenländer mit Ersatzkrediten unter die Arme. Am Ende der ersten Phase lagen die Forderungen der Bundesbank bei 750 Milliarden Euro und die italienischen Verbindlichkeiten bei 285 Milliarden Euro. Die Situation konnte in Phase II durch das OMT-Programm der EZB 2012 beruhigt werden. Die Targetsalden schrumpften – nur um dann ab 2015 in einer dritten Phase wieder durch die Staatsanleihenkäufe der Notenbanken im Rahmen des PSPP-Programms zu steigen. Phase IV leitete die Pandemie ein, die die deutschen Targetsalden massiv erhöhte.

Kritiker wie Hans-Werner Sinn warnen, dass Teile der Forderungen verloren sein könnten, wenn der Euro scheitert. Weil die Schuldenstaaten nach eigenem Ermessen die Salden ausweiten können, sprechen manche von einem ungedeckten Überziehungskredit.

Die Geldmenge läuft völlig aus dem Ruder

Schon in der Einleitung von „Die wundersame Geldvermehrung“ führt Sinn aus: „Der Bestand an Zentralbankgeld im Euroraum hat sich seit dem Beginn der Finanzkrise im Sommer des Jahres 2008 bis zum September 2021 fast versiebenfacht, von 880 Milliarden auf ziemlich genau sechs Billionen Euro, viel schneller, als die Wirtschaftsleistung stieg. Davon sind 4,9 Billionen ein Geldüberhang über jenes Niveau der Geldmenge, das sich in Relation zur Wirtschaftsleistung vor der Lehman-Krise schon einmal als ausreichend für die Eurozone erwiesen hatte. Von diesem Geldüberhang waren bis zum September 2021 etwa vier Fünftel durch die Käufe staatlicher Papiere in Umlauf gekommen. Drei Viertel des Zuwachses der Schulden der Eurostaaten seit 2008 wurden auf dem Umweg über zwischengeschaltete Banken von den nationalen Notenbanken und der EZB-Zentrale finanziert.“

Die Folge: „Perspektivisch sind in den nächsten Jahren weitere Anstoßeffekte (für die Inflation, Anm. d. Red.) in einem Kostenschub durch die Energiewende, in der Pensionierung der Babyboomer und in einer durch Zinsdifferenziale erzeugten Euroabwertung zu sehen. All diese Anstoßeffekte können zu einer Änderung der Inflationserwartungen führen, die eine sich selbst verstärkende Inflationsspirale in Gang setzt, bei der sich der Geldüberhang inflationär entlädt, ähnlich wie der Ketchup, der lange im Kühlschrank lag und nach dem Schütteln auf einmal aus der Flasche herausspritzt.“

Schulden ohne Ende

Im wichtigen Kapitel mit dem gleichlautenden Titel heißt es: „Neue Staatsschulden werden normalerweise aus der Ersparnis des privaten Sektors finanziert. Tatsächlich wurden sie aber in der Eurozone in den letzten Jahren weitgehend mit der Druckerpresse des Eurosystems finanziert. Staatsschulden und Gelddrucken bedingen sich gegenseitig. Staatsschulden ermuntern die Zentralbanken zum Drucken und Verleihen von Geld, um die Zinsen klein zu halten. Und die wegen des Gelddruckens niedrigen Zinsen ermuntern die Staaten, sich neu zu verschulden.“ Die mediterranen Länder hätten vor Einführung des Euro hohe Zinsen von zwölf bis 15 Prozent berappen müssen. Heute zahlt zum Beispiel das angeschlagene Italien niedrigere Sätze als die USA, die stärkste Volkswirtschaft der Welt. Kein Wunder, dass die Verlockung der Minizinsen so groß ist, dass dort und anderswo Regierungen immer neue Kredite aufnehmen und der Stabilitätspakt, der auf Drängen Deutschlands eigentlich Schuldenexzesse verhindern sollte, zur leeren Hülle wurde. Heute schaffen von den 20 Staaten, in denen der Euro Zahlungsmittel ist, gerade noch vier das Kriterium einer Verschuldung von maximal 60 Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP). Im Schnitt der Euro-Zone liegt die Schuldenquote bei mehr als 102 Prozent (siehe auch Kasten Seite 12).
Sinn schreibt: „Der Stabilitäts- und Wachstumspakt erlangte nie die Bedeutung, die sich Deutschland erhofft hatte, was auch daran lag, dass die Vertragsstrafen nicht automatisiert wurden, sondern erst nach einem Entscheid der EU-Kommission wirksam werden sollten. Die EU-Kommission mochte den Pakt nie, interpretierte ihn unter dem Druck der Schuldenländer sehrlocker und organisierte schließlich noch vertragliche Aufweichungen des Paktes.“

Seit dem Start der Währungsunion bis Ende 2020 habe es 195 Überschreitungen der 3-Prozent-Jahresbudget-Grenze gegeben, wovon 120 nach der ursprünglichen Vertragsformulierung strafbar waren, während 75 erlaubt waren, weil sich das jeweilige Land in einer schweren Rezession befand. Doch tatsächlich wurde, so beklagt Sinn, bislang keine einzige Strafe von der EU-Kommission verhängt.

Die Inflationsbremse ist blockiert

Aber kann man nicht verhindern, dass die Unsummen durch all die umstrittenen Maßnahmen und Regelauslegungen tatsächlich zur – vielleicht sogar entfesselten – Inflation führen? Auch an dieser Stelle kann Autor Sinn leider keine Entwarnung geben. Im Kapitel „Die Zerstörung der Inflationsbremse“ ziemlich am Ende des Buchs wird es fast philosophisch: „Der Hauptgrund für eine Inflationsgefahr liegt darin, dass die EZB ihre Politik nicht rückabwickeln kann. Sie hat die Zügel im Übermaß schleifen lassen, ohne dass die Pferde zu laufen anfingen, weil sie müde waren. Mit den Zügeln der Geldpolitik kann man bremsen, doch kann man die Pferde damit nicht antreiben. Dazu braucht man die Peitsche der Fiskalpolitik. Die Pferde können aber durch viele Störungen erschreckt werden. Wenn sie sich erholt haben und plötzlich, wie von einer Hornisse gestochen, zu rennen beginnen, dann tut sich der Kutscher schwer, die Zügel wieder anzuziehen, wenn sie zu lang gelassen wurden und sich im Geschirr verheddert haben.“

Sinns neues Werk

Wer wissen will, wie sich die Euro-Zone zur Schuldenunion entwickelt hat, warum die Notenbanken gelähmt sind und den Bürgern noch weiter steigende Inflation droht, ist mit Hans-Werner Sinn gut beraten. Sein neues Buch erschien am 22. November im Herder Verlag und hat 428 Seiten (ISBN: 978-3-451-39127-9)

Problem Defizitquoten - Der Euro und die Schuldenexzesse

Mit der Einführung des Euro war einst große Euphorie verbunden. Viele Länder aus dem Mittelmeerraum erwarteten sehnsüchtig, dass die neue Währung ihren Schuldenproblemen entgegenwirkt. Die Politiker der mediterranen Länder, die sich oftmals einem exorbitanten Schuldzins von 12 bis 15 Prozent gegenübersahen, rechneten jetzt mit einem intensiven Wachstum. Doch letztendlich ging die Rechnung nicht auf. Nach der Einführung des Euro verweilten die Schuldenquoten zwar zuerst in den meisten Fällen auf einem relativ gleichbleibenden Niveau – doch spätestens mit der Lehman-Krise wendete sich das Blatt. Besonders heftig traf es Griechenland, dessen Wirtschaft in ungeheurem Maß schrumpfte, was zu massiver Kreditaufnahme führte. Ohne den Schuldenschnitt läge die Defizitquote heute in der Nähe von 270 Prozent. Auch Deutschland entkam der Erhöhung seiner Schuldenquote nicht – allein die umfassenden Bankenrettungen 2010 ließ sie um elf Prozentpunkte anschwellen. Nachdem sich Deutschland jedoch 2009 der schwarzen Null verpflichtet hatte, gelang es, die Schuldenquote sukzessive wieder zu senken: Kurz vor Ausbruch der Pandemie lag sie in der Nähe ihres Anfangsniveaus von 60 Prozent. Doch die coronabedingten Konjunkturpakete haben das Problem wieder verschärft. So prognostiziert Sinn, dass wir uns hierzulande auf eine Verschuldung von 74 Prozent der Wirtschaftsleistung zubewegen. Schlimmer wird es für die Mittelmeerländer: Sinn geht davon aus, dass die Schuldenquote in Italien auf über 160 Prozent ansteigen wird. In Griechenland könnten es sogar über 210 Prozent werden.

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