2,5 Prozent sind besser

Wenn die europäische Geldpolitik zu restriktiv ist, haben vor allem Deutschland und Frankreich zu leiden.
Hans-Werner Sinn

Süddeutsche Zeitung, Nr. 100, 2. Mai 2003, S. 20.

Die Europäische Zentralbank überdenkt ihre Geldpolitik und wird dabei auch die Frage beantworten, ob sie die bisherige Obergrenze für die Euro-Inflation von 2 Prozent beibehalten wird. Es spricht vieles dafür, dass sie das nicht tut, sondern in Zukunft mehr Toleranz gegenüber der Inflation walten lässt.

Der Grund könnte in der enormen Spannweite der Inflationsraten im Euro-Raum liegen; sie erreichte im Durchschnitt der ersten vier Jahre der Gemeinschaftswährung immerhin 2,7 Prozentpunkte. Diese Spannweite ist kein Zufall, sondern hat systematische Gründe, die auf absehbare Zeit erhalten bleiben. Zwar haben alle Länder bereits sehr ähnliche Preise bei den weiträumig gehandelten Waren, doch nicht bei gehandelten Waren und Dienstleistungen wie Mieten, Baumaterialien, Leistungen von Handwerkern oder Leistungen des Gasgewerbes sind die Preise noch sehr unterschiedlich. Das ist besonders auf Unterschiede beim Lohnniveau zurückzuführen, die sich selbst wiederum aus Unterschieden beim Entwicklungsstand erklären lassen. Im Zuge der realwirtschaftlichen Konvergenz, die während der nächsten zwei Jahrzehnte kräftig voranschreiten wird, werden Löhne der heute noch rückständigen Länder aufholen, und mit ihnen werden die Preise der nicht gehandelten Waren und Dienstleistungen Anschluss an die entsprechenden Preise in den weiter entwickelten Ländern finden.

Dies ist ein natürlicher und wünschenswerter Anpassungsprozess der relativen Preise, den die Geldpolitik tolerieren sollte, zumal er durch den Euro selbst befördert wird. Der Euro hat eine Konvergenz der Zinsen in Europa gebracht und die realen Kapitalkosten insbesondere in den Ländern gesenkt, die bislang schwache Wirtschaftssysteme und Währungen hatten und hohe Risikoprämien im Zins zahlen mussten. Der Euro stimuliert deshalb in diesen Ländern die Kapitalinvestitionen, fördert das reale Wachstum, beschleunigt den Lohnauftrieb und erhöht so die Inflationsrate.

Psychologie und Preise

Versucht die EZB, die Anpassungsinflation der noch rückständigen Länder durch eine restriktive Geldpolitik zu behindern, also durch ein ehrgeiziges Ziel für die durchschnittliche Inflationsrate, so trifft sie damit auch die schon besser entwickelten Länder und zwingt sie in den Bereich sehr niedriger Inflationsraten hinein. Deutschland und Frankreich wären die wahrscheinlichen Opfer. Weil Löhne und Preise asymmetrisch flexibel sind, würde dies zu realwirtschaftlichen Verwerfungen führen. Die Asymmetrie hat psychologische Gründe, kann aber vor allem auch darauf zurückgeführt werden, dass diese Länder am Nominalwertprinzip orientierte Lohnersatzsysteme des Sozialstaates haben, die eine Nominallohnsenkung ausschließen. Die Gefahren beginnen schon bei niedrigen nationalen Inflationsraten, denn immer gibt es in einer großen Ökonomie Firmen und Branchen, die wegen des sich verändernden Wettbewerbs raschere Reallohnsenkungen brauchen, als auf dem Wege über eine Inflation bei konstanten Nominallöhnen möglich ist. Arbeitslosigkeit ist die Folge, und das Ausmaß dieser Arbeitslosigkeit ist umso größer, je niedriger die Inflationsrate ist.

Deutschland und Frankreich haben im europäischen Vergleich hohe Löhne und hohe Preise der nicht gehandelten Waren und leiden deshalb unter einem erheblichen Wettbewerbsproblem, das auch mit dem Euro zu tun hat. Zum einen haben beide Länder den Zinsvorteil verloren, den sie in ihrem faktischen Währungsverbund vor dem Euro hatten. Zum anderen gibt es Anhaltspunkte für die Vermutung, dass der Euro etwas zu früh eingeführt wurde, als die Mark, und mit ihr der Franc, ihre durch die deutsche Einigung bedingte Aufwertung im Gefolge der Krise von 1992 noch nicht verdaut hatte. Die zur Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit notwendige Zurückhaltung bei den deutschen und französischen Löhnen ließe sich leichter realisieren, wenn die EZB im Durchschnitt der europäischen Länder eine höhere Inflation erlauben würde. Die Länder könnten dann durch bloße Zurückhaltung bei weiteren Lohn- und Preissteigerungen wieder preisgünstiger werden. Sie könnten so den gleichen Effekt herbeiführen, wie er bei getrennten Währungen durch eine Abwertung erzielbar wäre. Ohne eine Lockerung der Geldpolitik wäre ein solcher Abwertungseffekt nur sehr langsam erreichbar, das es prohibitive Widerstände gegen eine Senkung der nominalen Löhne und Preise gibt.

Aus diesen Gründen sollte die EZB bis zum weitgehenden Abschluss des europäischen Konvergenzprozesses eine Inflationsrate von 2,5 Prozent für den Durchschnitt der Euro-Länder anpeilen und dabei zugleich darauf zu achten, dass kein Land in den Bereich sehr niedriger Inflationsraten gedrückt wird. Die Streuung der Inflationsraten nach unten bedarf ihres besonderen Augenmerks, denn davon gehen erhebliche Gefahren für die Stabilität der europäischen Wirtschaft aus.