Die Gründe für das europäische Impfstoffdebakel

Beim Ringen um die Coronaimpfstoffe hat die Europäische Union nicht nur politisch versagt. Sondern auch ökonomisch.
Hans-Werner Sinn

WirtschaftsWoche, 29. Januar 2021, Nr. 5, S. 22.

Angesichts der Verzögerungen bei den Impfungen liegen die Nerven in Europa derzeit blank. Die Europäische Union erwägt Klagen gegen die Hersteller, die Bundesregierung beschwichtigt die Bevölkerung, und die Opposition schimpft auf die Regierung. Man versteht es ja auch nicht: Mit dem Impfstoff der Firma Biontech aus Mainz gibt es ein extrem wirksames Mittel gegen das Virus, riesige Volumina werden in alle Welt geliefert – und EU-Länder wie Deutschland kommen kaum zum Zuge.

Deutschland hat in der dritten Kalenderwoche des Januars pro Tag 59.000 Menschen erstmals geimpft. Das sind zwar fast fünfmal so viele wie neu erkrankten, doch ist das bei Weitem nicht genug, um die Seuche in den Griff zu bekommen. Bis zur Jahresmitte würde man bei diesem Tempo gerade einmal elf Millionen Erstimpfungen realisieren können. Das ist weit weg von den 60 Millionen, die man impfen müsste, um die viel zitierte Herdenimmunität zu erreichen. Und auch bis zum Ende des Sommers, vor dem Beginn einer möglichen neuen Infektionswelle, wären gerade einmal etwas mehr als ein Viertel der erforderlichen Impfungen realisiert. Jeder weiß deshalb, dass eine dramatische Beschleunigung der Impfungen erforderlich ist.

Die Regierung erklärt, dass sie dank zusätzlicher Lieferungen bis Ende März 15 Millionen Menschen mit dem Biontech-Impfstoff und dem ähnlich wirksamen Impfstoff von Moderna geimpft haben wird. Das gibt etwas Hoffnung. Hoffnungen wurden allerdings schon viele geweckt, und viele zerstoben anschließend an der Realität. Auch die anfangs großen Erwartungen an den Impfstoff von AstraZeneca verwandelten sich inzwischen in große Ernüchterung – wegen Lieferproblemen und Meldungen, wonach sich positive Wirkungen auf die älteren Mitbürger, bei denen sich der Löwenanteil der schweren Fälle zeigt, bei den Tests bislang nicht nachweisen ließen.

Die Bundesregierung schiebt die Schuld an den Lieferengpässen unter anderem auf Donald Trump. Die Lieferungen seien so knapp, weil der abgewählte US-Präsident seine Amerika-first-Politik per Dekret auf die Impfstofflieferungen von Pfizer, dem amerikanischen Lizenznehmer von Biontech, ausgedehnt habe. In der Tat impfen die USA derzeit pro Tag relativ zur Bevölkerung dreimal so viele Menschen wie Deutschland – vor allem mit dem deutschen Impfstoff.

Aber Trumps Vorgehensweise erklärt nicht alles. Tatsächlich muss die EU sich heute hintanstellen, weil sie den Biontech-Impfstoff viel zu spät, nämlich erst im November 2020, bestellt hat. Sie wurde erst aktiv, nachdem die Presse und der deutsche Gesundheitsminister Druck aufgebaut hatten. Die ersten Bestellungen lancierte die EU vier Monate nach den USA, und das auch noch zu Konditionen, die für die Hersteller wenig attraktiv waren. Hätte man früher bestellt und höhere Preise akzeptiert, wären mehr Produktionskapazitäten für Europa aufgebaut worden. Die Hersteller hätten mehr Interesse gezeigt, in die EU zu liefern – und viel mehr Menschen könnten schon heute geimpft werden.

Gegen diese Aussage kann man Trump nicht ins Feld führen: Er hat schließlich nicht im Vereinigten Königreich und vielen anderen Ländern regiert, wo ebenfalls sehr viel schneller als in Deutschland geimpft wird. Großbritannien hat den deutschen Impfstoff schon im August bestellt und den verlangten Preis bezahlt, während die EU noch endlose Verhandlungsrunden drehte.

Wie man es dreht und wendet: Die EU hat sich einerseits von den USA die Butter vom Brot nehmen lassen, andererseits sehr träge und bürokratisch verhandelt. Entschuldigend weist man in Brüssel darauf hin, dass man es ja mit sechs Impfstoffherstellern zugleich zu tun hatte und nicht wissen konnte, welcher Impfstoff dereinst zum Erfolg führen würde. In einer solchen Situation wäre es aber auch aus ökonomischer Sicht angebracht gewesen, von allen sechs Herstellern hinreichend viele Dosen zu ordern, um auch dann eine Immunisierung der Bevölkerung zu erreichen, wenn nur ein einziger sich als erfolgreich erwiesen hätte. Dafür hätte die EU 30 Milliarden Euro aufwenden müssen, was ein Klacks ist, wenn man bedenkt, dass so viel EU-Sozialprodukt in der Coronakrise in weniger als zehn Tagen verloren geht.

Man kann natürlich nachvollziehen, warum die EU die Bestellungen organisieren wollte – und warum Deutschland, das die EU-Präsidentschaft innehatte, sich dem Ansinnen nicht verweigern wollte. Groß waren schon im Sommer die Befürchtungen, dass Deutschland mehr vom eigenen Impfstoff bekommen könnte als andere EU-Länder. Nur, was sind das für kleinkarierte Argumente angesichts des Umstandes, dass in der EU jeden Tag 3000 Menschen mit oder an der Krankheit sterben und die Wirtschaft von der Politik in ein künstliches Koma versetzt wird, an dessen Konsequenzen wir noch viele Jahre werden tragen müssen. Hätten die EU-Länder alle für sich selbst gehandelt, hätten sie sich alle beeilt, rechtzeitig ins Boot zu kommen – dann hätten sie heute mehr wirksamen Impfstoff für ihre Bevölkerung.

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