Grüner Unilateralismus ist unwirksam

Ohne internationale Vereinbarungen drohen Deutschland und die EU die Klimapolitik-Versuchskaninchen zu werden. Ein Kommentar von Hans-Werner Sinn.
Hans-Werner Sinn

Finanz und Wirtschaft, 26. Mai 2021 (ref. Project Syndicate), auch erschienen als "Germany's Ineffective Green Unilateralism", Finanz und Wirtschaft (26. Mai 2021).

Deutschland hat bereits eines der ambitioniertesten Klimaprogramme der ganzen Welt, und nun will es sich mit verschärften Zielvorgaben an die Spitze setzen. Dazu hat die Regierung gerade einen Gesetzesentwurf vorgelegt, demgemäss der CO2-Ausstoss gegenüber dem Referenzjahr des Pariser Klimaabkommens, also dem Jahr 1990, bis zum Jahr 2030 um 65% und bis zum Jahr 2040 um 88% reduziert werden soll. Die vollständige Klimaneutralität soll bis 2045 erreicht werden.

Dieses Programm bettet sich in den Green Deal der EU ein, der bis 2030 eine Reduktion um 55% und bis 2050 die vollständige Klimaneutralität vorsieht, denn Deutschland hatte sich auch in den vergangenen Jahren stets bereiterklärt, einen überproportionalen Anteil an den Reduktionsbemühungen zu tragen. Deutschlands Entscheidung ist aus einer Verantwortung für die Stabilität des Weltklimas entstanden und wird getragen von der grünen Bewegung, die in Deutschland ihren politischen Ursprung hatte und weitaus stärker ist als irgendwo sonst auf der Welt.

Auslöser war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor wenigen Tagen, das von grünen Umweltaktivisten erstritten worden war. Das Gericht übernahm die Theorie vom maximal zulässigen Kohlenstoffbudget sowie das Klimaziel von maximal 1,5 Grad Erderwärmung gegenüber vorindustrieller Zeit, die zulässig seien, um grössere Klimaschäden zu verhindern, und es argumentierte, das restliche Kohlenstoffbudget für die zukünftigen Generationen sei zu klein, wenn Deutschland jetzt schon so viel verbrauche wie bislang geplant.

Angesichts des Umstands, dass die Partei der Grünen in Deutschland nach einigen Meinungsumfragen im September die stärkste Fraktion im deutschen Bundestag sein wird, hat die Regierung von Angela Merkel nun die Flucht nach vorn ergriffen und erneut die Strategie der «asymmetrischen Demobilisierung» gewählt, mit der die Kanzlerin seinerzeit die sozialdemokratische Partei dezimiert und an den linken Rand gedrückt  hatte. Die Idee ist: Indem man das Programm des politischen Gegners übernimmt, beraubt man ihn seines Wahlkampfthemas und reduziert seine Siegeschancen.

Allerdings hatte diese Strategie bereits 2011 beim Versuch, die Grünen in Schach zu halten, nicht funktioniert. Damals hatte die Kanzlerin nach dem Unglück von Fukushima binnen weniger Tage den Atomausstieg durchgesetzt, um dadurch die Wahlchancen ihrer Partei im Bundesland Baden-Württemberg zu erhöhen. Tatsächlich wurde aber bei dieser Wahl der erste grüne Ministerpräsident Deutschlands fest etabliert, weil die Wähler das Original der Kopie vorzogen. Ähnliches könnte im September wieder passieren.

Das Problem bei solchen hastig aus dem Zeitgeist getroffenen Beschlüssen über politische Ziele ist, dass die Frage, ob sie überhaupt wirken und was sie kosten, nicht sorgfältig durchdacht werden kann. Allenfalls verlässt man sich auf euphorische Klimamodelle, in denen ökonomische Betrachtungen zur Wettbewerbsfähigkeit der Industrie und zu den Reaktionen der weltweiten Brennstoffmärkte überhaupt nicht vorkommen.

Deutschland setzt auf den Strom, der aus Wind- und Sonnenenergie gewonnen wird, um ihn direkt oder auf dem Umweg über die Wasserstoffproduktion zu verbrauchen. Sein Anteil am Endenergieverbrauch inklusive solcher Bereiche wie Heizung, Verkehr und Prozesswärme liegt derzeit aber noch unter 7%, obwohl das Land schon weitflächig mit Windanlagen und Solardächern übersprenkelt ist. An der Stromerzeugung macht der Anteil zwar schon ein Drittel aus, doch der Strom ist ja selbst nur ein Fünftel des Ganzen.

Schon heute hat Deutschland die höchsten Stromkosten der gesamten westlichen Welt, weil der grüne Strom aus Wind- und Sonnenkraft sehr volatil ist und zur Kompensation der extremen Fluktuationen und der häufigen Dunkelflauten den gesamten konventionellen Kraftwerkpark oder gleichwertigen Ersatz durch Gaskraftwerke benötigt. Die doppelten Fixkosten erklären den Spitzenpreis. Hinzu kommt: Wenn der Marktanteil des Wind- und Sonnenstroms steigen soll, dann gibt es immer häufiger den Verbrauch überschreitende Stromspitzen, für deren Nutzung man zwangsläufig Speicher braucht. Dann hat man dreifache Fixkosten.

Es ist offenkundig, dass Deutschland mit seiner Strategie, bei der Energieversorgung des Landes fast nur noch auf den grünen Flatterstrom zu setzen und zugleich die Kernkraftwerke abzuschalten, Gefahr läuft, seine Industrie zu ruinieren. Allein die Chemieindustrie würde bei einem Verzicht auf die derzeit genutzten fossilen Brennstoffe so viel Strom verbrauchen, wie heute insgesamt in Deutschland produziert wird, und der Verkehr, der zur Gänze elektrisch werden soll – direkt oder indirekt über den Wasserstoff  –, würde selbst auch noch einmal so viel Strom oder gar mehr benötigen.

Die deutsche und auch die EU-Rechnung sind im Übrigen naiv, weil sie auf einer semantischen Definition der Klimaneutralität basieren. Man berücksichtigt dabei nämlich nur den auf dem Territorium der EU realisierten CO2-Ausstoss und nicht den von der EU im Rest der Welt verursachten. Wenn die EU ihre technischen Ambitionen realisieren will, muss sie nicht nur aus der Kohle aussteigen, über deren Bestände sie selbst die Kontrolle hat, sondern auch aus den international handelbaren Brennstoffen Öl und Gas. Der Verzicht auf diese Brennstoffe bedeutet eine Subventionierung des Verbrauchs von Öl und Gas in anderen Teilen der Welt, weil die Nachfragesenkung, die er bedeutet, unmittelbar und zwangsläufig eine Senkung der Weltmarktpreise für handelbare fossile Brennstoffe verursacht.

Das liesse sich nur verhindern, wenn die EU die nicht mehr konsumierten Brennstoffe in grossen Tanks einlagern würde. Tut sie das nicht, wird anderswo das CO2 in die Luft geblasen, das die EU an importierten Brennstoffen einspart. Auch Zölle auf den Import CO2-intensiver Produkte würden daran nicht das Geringste ändern, weil andere Länder die frei gewordenen Brennstoffe auch für die Produktion nicht exportierter Waren verwenden können.

Das Pariser Abkommen wurde zwar von 200 Regierungen unterschrieben, doch nur dreissig von ihnen haben bindende Mengenbeschränkungen für den CO2-Ausstoss akzeptiert. Die 85%, die keine Beschränkungen akzeptiert haben, werden bei fallenden Weltmarktpreisen für die Brennstoffe noch weniger geneigt sein mitzumachen, weil der Protest der vom Preisverfall profitierenden Bürger noch grösser wäre.

Das Klimaproblem ist ein ernsthaftes Problem für die Menschheit, doch unilaterale Aktionen führen zu einer Selbstkasteiung, die wenig bewirken wird. Ohne bindende internationale Vereinbarungen drohen Deutschland und die EU die Versuchskaninchen der Welt zu werden, deren Schicksal andere von der Nachahmung abhält.

Nachzulesen auf www.project-syndicate.org oder www.fuw.ch.