"Eine Inflation wie in den Siebzigern ist möglich"

Die aktuelle Teuerung wird von vielen unterschätzt, warnt Hans-Werner Sinn. Und er verrät, warum sich das Ausland so dafür interessiert, wer unser nächster Finanzminister wird.
Hans-Werner Sinn

Die Welt, 22. November 2021, Nr. 262, S. 11.

Alle Welt klagt über den Berliner Flughafen, Hans-Werner Sinn nicht: Positiv erstaunt berichtet er über seine Ankunft am BER, den zügigen Transfer in die Innenstadt und die, verglichen mit München, günstigen Taxi-Kosten. Der bekannte Ökonom und frühere Chef des ifo Instituts ist derzeit wieder viel unterwegs - gerade erscheint sein neues Buch "Die wundersame Geldvermehrung", eine eindringliche Warnschrift gegen die Gefahren der Inflation. WELT hat mit ihm gesprochen.

Herr Professor Sinn, Sie haben vor 15 Monaten im Interview mit WELT gewarnt, dass der durch die EZB geschaffene Geldüberhang mit dem Wiederanlaufen der Wirtschaft nach der Corona-Krise eine Kosten-Preis-Spirale in Gang setzen könne. Nun ist tatsächlich die Inflation da. Wie, glauben Sie, geht es weiter?

Eine Inflation entwickelt sich durch einen ersten Anstoß, Verstärkungseffekte und möglicherweise neue, von
außen kommende Anstöße in der Zukunft. Der erste Anstoß liegt eindeutig bei den Materialverknappungen und Engpässen durch die Pandemie, in Deutschland und weltweit. Die Lieferengpässe werden Mitte des nächsten Jahres vermutlich überwunden sein. Aber es gibt dann Verstärkungseffekte.

Viele Experten betonen doch, die aktuelle Teuerungswelle sei temporär.

Das stimmt nur zum Teil. Auch eine Huckel-Inflation, die wieder abklingt, verändert die Inflationserwartungen. Die Leute bekommen Angst, dass es teurer wird. In Erwartung von Preissteigerungen in der Zukunft kaufen sie vorher.

Dinge des täglichen Gebrauchs wie etwa Nudeln - oder darüber hinaus?

Es geht hier eher um langlebige Konsumgüter, Autos, Waschmaschinen, Kühlschränke, deren Kauf man vorzieht, oder auch Häuser und Wohnungen. Die höhere Nachfrage treibt dann die Preise von neuem. Das ist aber nicht alles. Denn vor allem droht eine Lohn-Preis-Spirale. Die Gewerkschaften werden nächstes Jahr bei den Lohnverhandlungen die Inflation von diesem Jahr auf ihre Forderungen obendrauf schlagen.
Und damit sind wir schon in der nächsten Runde, weil die Firmen gezwungen sind, wegen ihrer gestiegenen Kosten die Preise zu erhöhen.

Sie erwähnen in Ihrem Buch noch weitere mögliche Anstoßeffekte...

Einer dieser Effekte ist die Energiewende. Wir schaffen sukzessive die billigen traditionellen Energiequellen ab, weil die Politik sie verbietet. Die Alternativen sind aber nicht billiger. Wenn es so wäre, hätten die Märkte diese Alternativen auch schon von allein gewählt. Das Verbot zwingt die Wirtschaft, auf teurere Energieträger auszuweichen. Die Wende wird die Produktionskosten massiv erhöhen, denn Deutschland will ja gleich alle traditionellen Energiequellen abschaffen: Also die Braunkohle, die Steinkohle, die Kernenergie, das Öl und bis spätestens 2045 sogar das Erdgas. Gegenüber der dadurch erzeugten Inflation könnten die Preissteigerungen durch die OPEC in den 1970er-Jahren verblassen.

Sorgt die Geldpolitik nicht auch Ungemach von der Währungsfront?

Ja. Während die USA durch Zinserhöhungen auf die Inflation reagieren, werden sich die Europäer aus Rücksicht auf die überschuldeten Südstaaten schwertun, ihnen zu folgen. Daraus ergibt sich ein Zinsunterschied. Das Kapital fließt in den Dollar und wertet ihn auf, den Euro dagegen ab - schon haben wir eine importierte Inflation. Und dann die Demografie: Die Babyboomer wollen bald aufhören zu arbeiten, doch essen wollen sie weiterhin. Die Nachfrage trifft also auf ein schrumpfendes Angebot. Auch das bedeutet Inflation. Insofern befinden wir uns heute in einer geschichtlichen Umbruchphase.

Aber würde Deutschland dadurch nicht auch gewinnen, weil die Staatsschulden erodieren?

Der deutsche Staat schon, aber Deutschland besteht nicht nur aus dem Staat, sondern auch aus seiner Wirtschaft und seinen Bürgern. Die deutsche Volkswirtschaft ist in ihrer Gesamtheit nicht etwa in der Welt verschuldet, sondern besitzt wegen ihrer früheren Exportüberschüsse nach Japan das zweitgrößte Nettoauslandsvermögen der Welt. Eine allgemeine Inflation vernichtet jenen Teil ihres Vermögens, der nominal definiert ist. Denken Sie nur mal an die Anlagen in ausländischen Staatspapieren oder die riesigen Targetforderungen der Bundesbank, die allein schon über 1000 Milliarden Euro betragen. Deutschland verliert durch die Null- und Negativzinspolitik schon heute sehr viel Geld. Bei einer Inflation würde es noch viel mehr verlieren.

Die künftige Besetzung des Finanzministeriums bewegt sogar das Ausland. Nach den US-amerikanischen Investment-Banken State Street und Black Rock warnen nun auch die Wirtschaftsexperten Joseph Stiglitz und Adam Tooze, FDP-Chef Christian Lindner würde Europa kaputt sparen. Sie plädieren stattdessen für den Grünen Robert Habeck.

Das ist geradezu grotesk. Die Finanzmärkte haben Angst vor der marktwirtschaftlichsten und liberalsten deutschen Partei! Das offenbart, um was es den Investoren wirklich geht: Die europäischen Wertpapiere in den Händen der US-Pensionsfonds sollen abgesichert werden durch deutsche Garantien. Wenn ein Finanzminister Lindner dem einen Riegel vorschiebt, dann sind die Portfolios dieser Fonds in Gefahr. Die wollen ihr eigenes Vermögen retten, und am liebsten wollen sie weiter Casino spielen. Dass sich die genannten Kollegen vom linken Spektrum ähnlich äußern, kann mich nur wundern. Die heimliche Allianz zwischen den Linken, die die Solidarität im Auge haben, und der Finanzwirtschaft, die ihre Investments sichern möchte, ist ein Phänomen, das man in den letzten Jahren immer wieder beobachten konnte.

Aber ob Habeck oder Lindner - beide müssten sich ja letztlich innerhalb  eines koalitionären Konsens bewegen...

Der Finanzminister ist schon sehr wichtig bei der Frage, in welche Richtung sich Europa bewegt, was künftig diegroße Linie sein wird. Er kann Themensetzen, er verhandelt auch im Ecofin-Rat mit den anderen Ländern. Wenn Lindner das Ministerium nicht bekäme, geriete die neue Regierung in Deutschland recht bald in Misskredit.

Hans-Werner Sinn ist auch fünf Jahre nach seinem Abschied aus dem Münchner Ifo-Institut noch einer der bekanntesten deutschen Ökonomen. Der emeritierte Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität berät das Bundeswirtschaftsministerium als Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat. Sinn vor allem als Autor bekannt. Am 22. November erscheint im Herder-Verlag sein neues Buch "Die wundersame Geldvermehrung".

Das Interview führte Michael Höfling.

Nachzulesen auf www.welt.de.