„Kriege entstehen immer aus der Moralisierung“

Der Spitzen-Ökonom Hans-Werner Sinn nimmt Stellung zu Wirtschaftssanktionen und erklärt, wie uns Kinderlosigkeit, grüne Energiepolitik und EU-Schuldenmacherei ruinieren.
Hans-Werner Sinn

Weltwoche, 3. November 2022, Nr. 44, S. 34-36.

Ob Inflation, Stagflation, Klimapolitik, Energiewende, Autoindustrie, Demografie, Euro oder Schulden – der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn zählt mit zahlreichen Fachartikeln, Büchern und Videos zu diesem Themenkreis zu den bekanntesten Wirtschaftswissenschaftlern und Autoren Europas. Der frühere Leiter des ifo Instituts und Professor an der Universität München ist seit seiner Emeritierung ständiger Gastprofessor an der Universität Luzern. Wir treffen Sinn zum Gespräch bei einem Besuch in Zürich.

Weltwoche: Herr Sinn, Sie sind Ökonom und vertreten eine Wissenschaft, die immer wieder die Bedeutung friedlicher Kooperation über Märkte, freiwillige Verträge und Erfndergeist der Menschen hervorhebt. Machen Sie sich jetzt also nicht allzu grosse Sorgen um die Bewahrung von Freihandel und Globalisierung? Sehen Sie keine Gefahren der Abschottung?

Hans-Werner Sinn: Doch, die heutige Lage macht mir große Sorgen. Die Moralisierung der Außenpolitik, die jetzt das Feld beherrscht, ist billig und gefährlich. Kriege entstehen immer aus der Moralisierung. Der Westen muss sich bewaffnen, doch einen kühlen Kopf bewahren.

Und Wirtschaftssanktionen?

Wollte sich Deutschland in der Aussenwirtschaft von moralischen Urteilen leiten lassen und nur noch mit Ländern Handel treiben, die seine Werte teilen, dann gäbe es kaum noch Partner auf der Welt. Aus Berliner Sicht gilt ja selbst die Schweiz als problematisches Land. Moralisieren ist einfacher als nachdenken.

Wie ist Ihr persönlicher Eindruck: Driftet die Weltwirtschaft, speziell auch Deutschland, auf einen Abgrund zu, oder sehen Sie eine Chance für die Wende zum Besseren?

Es drohen gewaltige demografische Probleme. Einige Völker vermehren sich rasant, andere schrumpfen. Das ruft destabilisierende Wanderungsprozesse hervor. Wichtiger noch sind Krieg und Energiekrise. Deutschland hat die Atomkraft verteufelt, und die EU treibt im Alleingang den Ausstieg aus fossilen Energien voran wie kaum eine andere Region. Zudem dreht Putin das Gas ab. Aber ich bin längerfristig doch optimistisch, weil ich glaube, dass die Europäer lernfähig sind, wenn der Leidensdruck steigt.

Wo zum Beispiel?

Die Geburtenarmut, die Berlin fast schon zum Modell einer neuen multisexuellen Gesellschaft erhebt, wird nicht dauerhaft sein. Vermutlich wird der Eindruck der wachsenden Altersarmut, die in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts bevorsteht, einer Rückkehr zu traditionellen Familienbildern den Weg ebnen. Die Welt der Dink-Familien [Double Income, No Kids] funktioniert nun mal nicht. Die wenigen jungen Menschen, die es trotz der Kinderarmut noch geben wird, werden sich an traditionelle Lebenswege erinnern und sich kopfschüttelnd vom Lebensmodell der verarmten Alten abwenden, die nicht auf die Unterstützung ihrer Familien zurückgreifen können.

Sehen Sie schon Anzeichen?

Nein, noch nicht. So etwas dauert Jahrzehnte. Bismarck hatte in den 1880er Jahren jene Sozialgesetzgebung begründet, die den Menschen auch dann ein Auskommen im Alter zusicherte, wenn sie selber keine Kinder hatten. Das Versprechen lautete: Um im Alter leben zu können, braucht ihr nicht mehr selbst Kinder zu haben, unsere Rentenversicherung sorgt für euch. Tatsächlich funktioniert die Rentenversicherung nach dem Umlageverfahren aber auch nur dann, wenn andere Leute doch noch Kinder haben. Die Schaffenskraft der Kinder wurde sozialisiert, das hat die gewollte Kinderlosigkeit ermöglicht. Die Sozialisierung hat das Verhalten der Menschen verändert. Nicht innerhalb einer Generation, aber langfristig sahen die Menschen, dass der Onkel und die Tante, die früher mittellos gewesen wären und in der Familie hätten betteln gehen müssen, wie Bismarck es in seiner Reichstagsrede von 1881 sagte, im Alter zurechtkamen. Der neue Lebensweg ohne Kinder fand von Generation zu Generation immer mehr Nachahmer.

Niedrige Geburtenraten sind also mit der Sozialversicherung in Verbindung zu sehen?

Es spricht vieles für diese These. In Ländern ohne öffentliche Rentenversicherung gibt es weitaus mehr Kinder als in der westlichen Welt, in der diese bismarcksche Rentenreform durchgehend kopiert wurde.

Warum sind Kinder heute denn aus privater Sicht so wenig attraktiv?

Es gibt drei Gründe für das Kinderkriegen. Erstens den Sex. Die Kinder sind die Begleiterscheinungen einer anderweitig motivierten Tätigkeit. Zweitens das Investieren in die Altersvorsorge und drittens das Motiv, einen Lebensnutzen aus der Existenz solcher kleiner Wesen zu haben; das ist ein direkter Konsumnutzen. Zwei der drei Gründe sind inzwischen entfallen. Der Sex wurde durch die Pille vom Kinderkriegen abgekoppelt, und das Investitionsmotiv, das in traditionellen Familien noch vorherrschte, wurde durch die Rentenversicherung zunichte gemacht. Das Konsummotiv, das blieb, erwies sich als zu schwach, um die Bevölkerung stabil zu halten.

Wenn Sie auf Europas Landkarte blicken, wo sehen Sie die größten Irrtümer, die sich durch Politik und Medien ziehen?

Die Gleichgültigkeit gegenüber der Kinderlosigkeit zählt sicher dazu. Ein zweiter großer Irrtum besteht im Umstand, dass man unilaterale Klimapolitik, Handeln im Alleingang, aus ethischen, moralischen Gründen für wirksam und gerechtfertigt hält. Wer glaubt, Verbrennerverbote führten zu einer Reduktion des CO2-Ausstoßes, irrt jedoch gewaltig.

Aber die Menge an CO2-Emissionen wird doch wenigstens leicht verringert.

Nein. Bei Brennstoffen, die international handelbar sind, bedeuten Einsparungen in einem bestimmten Land, dass die von diesem Land freigegebenen Mengen via Markt in andere Länder gelangen und zu fallenden Preisen dort verbraucht werden – es sei denn, die Ölförderer würden selber mehr im Boden lassen. Das ist aber erwiesenermaßen nicht der Fall, wenn nur Teile der Welt Brennstoffe einsparen.

Sollte also die EU bis 2050 ihre Emissionen wie geplant auf netto null drücken, wäre das global ohne Wirkung?

So ist es jedenfalls bei der Steinkohle, dem Gas und dem Öl, denn um eine Wirkung zu erzielen, müssten wir diese Brennstoffe weiter kaufen und auf europäischem Territorium sicher versiegeln. Da wir das aus verständlichen Gründen nicht tun, werden diese Brennstoffe über die Märkte nach China, Indien und in all die anderen Länder der Welt geliefert, die keinen Klimaschutz betreiben. Nur bei der Braunkohle erreichen  wir etwas, weil die bereits auf unserem Territorium liegt und dort vor dem Zugriff anderer geschützt werden kann.

Was ist denn Ihre Empfehlung, wenn man CO2-Emissionen reduzieren will?

Wenn man das will, muss man zu einer weltweiten Übereinkunft kommen, aber nicht nach der Art des Pariser Abkommens. Das Pariser Abkommen haben letztlich 191 Länder unterschrieben, aber lediglich 61 Länder verpflichteten sich zu Mengenbeschränkungen, darunter die Schweiz . . .

. . . die als einziges Land eine Volksabstimmung dazu hatte mit dem CO2-Gesetz und letztendlich doch nein gesagt hat.

Der Schweizer Verhandlungsführer hatte es zumindest versucht. Die meisten anderen Länder haben sich schon in Paris zu nichts verpflichtet, ausser dass sie immer wieder nette Worte zu den Zielen anbringen. Sie haben dem Abkommen zugestimmt, weil sie es schön fanden, dass die 61 Länder ihnen den selbst nicht mehr verwendeten Brennstoff überlassen wollten.

Dann ist einseitig betriebener Klimaschutz völlig sinnlos?

Ja, Klimapolitik ergibt nur Sinn, wenn alle oder doch die allermeisten Länder mitmachen und man so lange auf unilaterale Politik verzichtet, bis das der Fall ist. Das naivste Argument, das ich in Deutschland immer wieder höre, ist: «Wir gehen voran bei der grünen Politik und zeigen den anderen, wie es geht, dann machen die das nach.» Das Gegenteil wird passieren: Deutschland zeigt den anderen, wie man seine Industrie ruinieren kann, und die anderen werden einen Teufel tun, das nachzumachen. Man diskreditiert die gesamte Klimapolitik durch diesen selbstschädigenden europäischen Unilateralismus.

Wie sehen Sie das Argument: «Wir gehen voran beim Ausbau von Solar und Wind und machen die Fossilen überflüssig»?

Der Hauptdenkfehler der Vertreter dieses Weges besteht im Argument, die grüne Energie ermögliche es, auf fossile Energie zu verzichten. Dabei wird nämlich übersehen, dass der sehr volatile Wind- und Sonnenstrom überhaupt nicht verwertet werden kann, wenn die Schwankungen nicht durch gegenläufige Variationen der konventionellen Energien ausgeglichen werden. In den häufgen Dunkelflauten, während deren weder der Wind weht noch die Sonne scheint, müssen sie die gesamte Versorgung allein schaffen.

Das blenden viele Studien aus.

So ist es. Es gibt im Winter eben Perioden, nicht nur Tage, manchmal ganze Wochen, in denen der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint, und in diesen Dunkelflauten muss ein konventioneller Kraftwerkspark in vollem Umfang verfügbar sein, um die Nachfrage zu decken. Man kann also kein einziges
konventionelles Kraftwerk abschalten, wenn man voll in die Wind- und Sonnenenergie geht – egal, wie viel Kapazität man zubaut.

Aber auf dem massiven Ausbau beruht doch die Strategie von Links-Grün.

Wenn der Verkehr, die Gebäudeheizung und die Prozesswärme der Industrie durch Strom gedeckt werden sollen, brauchen wir viermal so viel Strom wie heute. Aber dann brauchen wir auch viermal so viele konventionelle Kraftwerke zum Ausgleich der Unwucht beim Wind- und Sonnenstrom, denn eine Vervierfachung der Wind- und Solaranlagen nützt nichts in der Dunkelflaute. Vier mal null ist auch null. Es ist unverantwortlich, fossile Brennstoffe zu verbieten, bevor die Ersatzanlagen tatsächlich existieren und sich in der Realität bewährt haben.

Sehen Sie einen weiteren großen Irrtum in Europa?

Ein solcher besteht darin, dass man die politische Integration Europas, die ich für sinnvoll und notwendig halte, gerade auch in militärischer Hinsicht, voranbringen will durch die Europäische Währungsunion und durch wachsende Transfersysteme. Dieser Weg führt nicht zum Ziel.

Warum?

Eine politische Union Europas bedeutet zwingend, dass Frankreich seine Kontrolle über die Atomwaffen aufgibt und diese der EU übereignet. Das will Frankreich aber partout nicht.

Aber könnte die Fiskalunion nicht zur politischen Union führen?

Nein. Spieltheoretisch war seinerzeit die Ausgangslage klar: Deutschland hatte das Geld, die harte Währung D-Mark, und Frankreich die Atomkraft. Vor der Einführung des Euro hat Mitterrand einmal gesagt, die D-Mark sei die Force de Frappe der Deutschen. Der Gedanke dahinter: Deutschland lässt seine D-Mark im Euro aufgehen, und dafür wird die Force de Frappe sozialisiert.

Ist das nun verpasst?

Das Einbringen beider Trümpfe hätte gleichzeitig erfolgen müssen, Zug um Zug. Aber dann gelang es Frankreich, anstelle der Force de Frappe seine Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung in die Verhandlungen einzubringen, um Deutschland zur Aufgabe seiner Währung zu bewegen. Der so entstandene Euro hat eine fiskalische Union erzwungen, weil die Kapitalmärkte die neue Währung sonst längst in die Luft gejagt hätten. Damit hat Frankreich seine Ziele erreicht. Die Fiskalunion stärkt sein Hinterland im Mittelmeerraum, sorgt für Absatzgebiete seiner Industrien und sichert die Kredite seiner Banken. Um nichts in der Welt wird man Frankreich nun noch dazu bringen können, seine Force de Frappe einer gemeinsamen europäischen Kontrolle zu unterwerfen. Deutschland hat keine Asse mehr in dem Pokerspiel, von dem es hoffte, es werde zur politischen Union Europas mit einer gemeinsamen Streitmacht führen.

Kann die EU eigentlich auseinanderbrechen?

Das glaube ich weniger. Gefährdeter ist der Euro. Bevor er aber zerbricht, wird er immer wieder mit neuen Rettungsaktionen zugekleistert. Das System wird im Laufe der Zeit immer mehr in Richtung Vergemeinschaftung gezogen. Die Gemeinschaftshaftung kann dann allerdings selbst die Bonität des gesamten Systems unterminieren, weil sie Schuldenorgien provoziert. In den ersten Jahrzehnten ihrer Geschichte litten die USA darunter. Und heute zeigt uns Großbritannien, wie schnell die Verschuldung einen Bonus auf den Kapitalmärkten verspielen kann.

Ist die Demokratie eigentlich großenteils zu schwach, um die Finanzpolitik streng genug zu kontrollieren?

Das ist wohl so. Warum verschulden sich die Staaten überhaupt, statt Steuern zu erheben oder ihr Budget an anderer Stelle zu reduzieren, etwa bei Sozialleistungen? Weil diejenigen, die erkennbar sofort belastet werden, laut aufschreien und den Politikern mit ihrer Lobbykraft Feuer unter dem Hintern machen. Die Demokratie neigt dazu, die Zins- und Tilgungslasten auf zukünftige Generationen zu verschieben, die heute nicht mitstimmen können. Aber selbst das ist heute nicht mehr der Fall.

Warum?

Wegen der Stagflation, in der wir uns befinden, tritt die Last sofort auf, nämlich bei anderen Gruppen, die wegen Inflation jetzt Realvermögen und reale Einkommen verlieren. Immer noch ist die Last freilich weit genug verteilt und hinreichend diffus, so dass es nicht zu Proteststürmen kommt.

Kann es sein, dass die Inflation Regierungen,Verwaltungen, ja Notenbanken deshalb gar nicht so unwillkommen ist?

Wenn man diesen Akteuren entsprechende Ziele unterstellt, dann hatte die langjährige Null- und Negativzins-Zeit tatsächlich zwei Vorteile. Erstens entlasteten die tiefen Zinsen die Schuldenmacher, und zweitens bringt ihnen die dadurch provozierte Inflation jetzt den Vorteil der Erosion des Realwertes der Schulden.

Viele Ökonomen sprechen sich anders als Sie auch eher für Schulden aus. Wie beeinflussen ökonomische Ideen und wirtschaftswissenschaftliche Beratung die Politik?

Die ökonomische Beratung neigt stets dazu, sich den Wünschen der Politik anzupassen. Der Keynesianismus hatte lange Zeit wieder Oberhand. Politiker wollen Geld ausgeben und brauchen Theorien, die das gutheissen. Und das sind nun mal die keynesianischen Ansätze. Nach der Lehman-Krise hatten diese Theorien wieder Oberwasser bei manchen Ökonomen erhalten. Es gab sogar Auswüchse bis hin zur «Modern Monetary Theory», die besagt, der Staat könne Güter einfach mit frisch gedrucktem Geld bezahlen und beliebig viele Schulden machen. Dass es immer noch Stimmen gibt, die diesen Unsinn unterstützen, erfüllt mich großer Sorge.

Wie erklären Sie die vergleichsweise stabile Entwicklung der Schweizer Wirtschaft?

Von der Zeit vor der Finanzkrise im Jahr 2008 bis zum Jahr 2018 hatten die Schweiz und Deutschland eine völlig parallele industrielle Entwicklung, hatten das Vorkrisenniveau von 2007 sogar gemeinsam überschritten. Dann trennten sich die Wege. Seit 2018 bewegt sich die Industrieproduktion der Schweiz mit der Weltmarktproduktion nach oben, und das trotz des immer stärker werdenden Frankens. Doch die deutsche Produktion fällt. Die deutsche Industrie ist herzkrank geworden. Das Herz ist die Automobilindustrie und ist krank seit den EU-Beschlüssen zur Zurückdrängung der Verbrennungsmotoren
und Bevorzugung der Elektroautos.

Wieweit kann man sich auf China verlassen als Motor der Weltwirtschaft?

China ist zurzeit kein Motor, sondern die große Bremse der Weltwirtschaft. Die chinesischen Exporte von Vorprodukten, die unsere Wirtschaft dringend benötigt, sind wegen der massiven Corona-Eingriffe nach wie vor blockiert. Lockdowns und Quarantäne-Maßnahmen habe die Häfen Chinas für zwei Jahre blockiert, und sie tun es immer noch. Das Land will einfach nicht wahrhaben, dass sein Impfstoff nicht funktioniert, und sucht sein Heil in einer Null-Covid-Strategie. Wenn China in die Lage kommt, endlich die Bremsen zu lockern, kommt auch die Weltwirtschaft wieder in Schwung.

Hans-Werner Sinn ist emeritierter Ökonomieprofessor an der Universität München und war von 1999 bis 2016 Präsident des ifo Wirtschaftsinstitutes.

Das Interview führten Roger Köppel und Beat Gygi.

Nachzulesen auf www.weltwoche.ch.