„Es wird Zeit, dass wir zu einer normalen privaten Wirtschaftsweise zurückkehren.“

Aus ökonomischer Sicht ist für Hans-Werner Sinn in der Coronakrise einiges falsch gelaufen. Und die Folgen haben viele noch gar nicht auf dem Schirm – besonders wenn es um die Rettungsfonds geht.
Hans-Werner Sinn

getAbstract, 30. Juni 2021.

Herr Sinn, vor rund einem Jahr erschien Ihr Buch Der Corona-Schock. Darin schrieben Sie, dass Deutschland und Europa nun die Chance hätten, strukturelle Probleme aufzudecken und ihnen entgegenzuwirken. Wurde diese Chance in Ihren Augen genutzt?

Nein. Nach dem ersten Lockdown wurde weitergemacht wie zuvor. Dann kam eine neue Welle, ein neuer Lockdown, und auch der hat mit Blick auf unsere strukturellen Probleme nichts verändert. In der Klimapolitik gehen wir mit viel Eifer, doch wenig Umsicht voran und verspielen die Wettbewerbsposition der Industrie. Auf die demografischen Probleme reagieren wir, wenn es zu spät ist. Die Europapolitik ist in eine totale Schieflage geraten. Griechenland halten wir in Europa und Großbritannien lassen wir ziehen.

Was würden Sie sagen sind aktuell die wirtschaftlich größten und gravierendsten Probleme, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen?

Aktuell haben wir die wirtschaftliche Rezession durch Corona überwunden. Die Wirtschaft zieht stark wieder an, basierend auf dem Rückgang der Infektionsrate. Deutschland selbst ist seit dem letzten Herbst bereits wieder gut im Geschäft. Im asiatischen Raum hatte man die Epidemie viel besser im Griff, sodass sich das Exportgeschäft schnell wiederbeleben ließ. Hier sind wir weitestgehend im grünen Bereich. Es gibt allerdings Nachwirkungen insofern, als durch die Lockdowns vielfach Produktionstätigkeiten reduziert und die Ausfälle vom Staat bezahlt wurden. Nun fehlt es eben an entsprechenden Produkten. Das zeigt sich heute im Bereich der industriellen Zwischenprodukte und auch im Baugewerbe – hier wird über Materialknappheit geklagt. Sprich: Der neue Optimismus und die neue Kaufkraft stoßen auf ein vermindertes Angebot, was sich inflationär bemerkbar macht.

Gibt es in Ihren Augen effektive Gegenmaßnahmen?

Die Engpässe verschwinden von allein. Die Firmen produzieren jetzt ja wieder und vergrößern ihr Angebot. Sorgen macht mir die Inflation. In der Pandemie und auch schon während der Eurokrise wurde die Geldmenge sehr stark ausgeweitet. Wenn nun inflationäre Tendenzen auftreten, lässt sich das geldpolitisch kaum noch bremsen. Während der drei Krisen Euro-, Finanz- und Coronakrise zusammen hat sich die im Umlauf befindliche Geldmenge in der EU von 900 Milliarden auf 5,8 Billionen Euro erhöht. Das Problem ist, dass Sie dieses Geld nicht einfach wieder einsammeln können. Der Zuwachs basiert auf Staatspapieren und Wertpapierkäufen von staatlichen Organisationen. Würde man die rückgängig machen, kämen Staaten wohl in Schwierigkeiten, weil sie höhere Zinsen zahlen müssten. Und Banken, die noch ähnliche Papiere in ihrem Portfolio haben, müssten Abschreibungen und damit Verluste verkraften, sodass also aus politischen Gründen der Rückwärtsgang bei dieser Politik kaum möglich ist. Das ist eine latente Inflationsgefahr für die nächsten Jahre.

Sie sprachen die angewachsene Geldmenge an. Seit Beginn der Pandemie wurden unzählige finanzielle Rettungspakete zur Verfügung gestellt. Doch woher kommt das Geld für Programme wie PEPP oder TLTRO III?

Nehmen wir das erste und damit das Pandemic Emergency Purchase Programm. Dieses wurde im letzten Jahr von der Europäischen Zentralbank verkündet und hat einen Umfang von 750 Milliarden Euro. Das spiegelte sich mit dem 750-Milliarden-Euro-Rettungsfonds der EU. Natürlich war geplant, dass die EZB die Schuldpapiere des Rettungsfonds in Höhe von 750 Milliarden aufkaufen würde. Mit anderen Worten: Die Rettungsgelder kommen aus den Druckerpressen des Eurosystems.

Es werden immer mehr Verfügungsrechte über Güter vergeben. Das Wachstum der Geldmenge orientiert sich ja eigentlich am Bruttosozialprodukt, dieses ist aber kaum gestiegen und erst recht nicht in dem Umfang, in dem nun Geld gedruckt wird. Es entsteht also ein Missverhältnis zwischen der Menge dieser Ansprüche und dem wirklichen Sozialprodukt. Das hat Auswirkungen auf die Preise: Wir sehen diese Entwicklung schon jetzt an den Märkten, bei Anlagen, langfristigen Papieren, bei Aktien und insbesondere auch bei Immobilien.

Auch bei der Verteilung der Gelder herrscht in Deutschland teilweise große Verwirrung. Einige mussten monatelang auf Zahlungen warten, andere warten heute noch, und dann gab es diejenigen, die sich Geld gesichert haben, obwohl es ihnen gar nicht zusteht. Was ist hier verkehrt gelaufen?

Es ist ein riesiges bürokratisches Monster entstanden. Die Bürokratie hat sich schwergetan, den Impfstoff zu bestellen. Die Bürokratie hat sich schwergetan, die Impfstoffe zu verteilen. Die Bürokratie hat sich schwergetan, die Rettungsgelder zu verteilen. Es ist überall dasselbe: Es herrschte und herrscht ein ziemliches Chaos.

Und es wird Zeit, dass wir zu einer normalen privaten Wirtschaftsweise zurückkehren, sodass man nicht mehr beim Staat irgendwelche Anträge stellen muss, um sein Geld zu bekommen, sondern Produkte erzeugt und das Geld von den Kunden holt. Nur auf diese Weise entsteht ein echtes Sozialprodukt.

Unzählige Unternehmen haben Kredite erhalten. Was passiert, wenn diese nicht getilgt werden können?

Ja, es existieren in riesigem Umfang Bürgschaften, die der Staat übernommen hat. Und die könnten fällig werden. Das heißt, dann springt der Staat ein und muss als Gläubiger verzichten. Es sind hier erhebliche Risiken vorhanden. Wie groß sie sind, weiß aber bisher kein Mensch, weil die Insolvenzordnung ausgesetzt wurde. Irgendwann muss man zu einem normalen marktwirtschaftlichen System zurückkehren! Doch die negativen Schlagzeilen, die das dann macht, die will man natürlich lieber auf die Zeit nach der Bundestagswahl verschieben.

Wenn Sie auf Europa schauen, welche Länder werden sich am schnellsten von den Auswirkungen der Pandemie und den damit verbundenen Maßnahmen erholen? Und gibt es Länder, die da besser aufgestellt sind?

Wir haben in Europa das Grundproblem, dass der Süden durch die inflationäre Kreditblase, die der Euro bei seiner Einführung erzeugte, viel zu teuer geworden ist und seine Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hat. Dieses Grundproblem zeigt sich natürlich auch jetzt: Der Norden kommt schneller auf die Beine und überwindet die Krise. Der Süden hingegen verheddert sich weiterhin in seinem Wettbewerbsproblem. Das wird jetzt teilweise durch die Rettungsgelder ausgeglichen, die zur Verfügung gestellt werden. Doch dadurch kann man nicht den Export beflügeln, der das Lebenselixier einer funktionierenden Marktwirtschaft ist.

Die Finanz und die Eurokrise waren Nachfragekrisen. Was unterscheidet sie so von der jetzigen Coronakrise?

Makroökonomisch kann die Nachfrage nach Gütern gestört sein oder auch das Angebot. Während der Finanzkrise brach die Nachfrage nach Investitionsgütern zusammen. Oder in den 1970er-Jahren war plötzlich ein wichtiger Produktionsfaktor nicht mehr verfügbar, nämlich das Öl. Damals hatten wir eine Angebotskrise. Jetzt, bei der Coronakrise, haben wir eine Art von Transaktionskrise. Aus Angst sich anzustecken, kamen die Leute nicht mehr zusammen bzw. verordnete die Politik, dass sie nicht mehr zusammenkommen durften. Das ist ein neuer Typus von Krise. Und man muss sich natürlich fragen, ob konjunkturstabilisierende Maßnahmen, die darauf hinauslaufen, den Leuten Geld in die Hand zu geben, damit sie es ausgeben, in einer solchen Krise angemessen sind. Die Läden waren zu. Wir durften nicht mehr rausgehen. Und gleichzeitig gaben wir den Leuten Geld in die Hand, damit sie wieder einkaufen gehen können. Das passte nicht zusammen. Denn dieses Geld ergießt sich nun auf den Versandhandel und der boomt sowieso schon grenzenlos.

Was wäre in Ihren Augen sinnvoller gewesen?

Sich noch stärker auf die Ursachenbekämpfung zu konzentrieren, was man ja mit den Impfstoffen dann erreicht hat. Aber dieses Thema ist anfangs sträflich vernachlässigt worden. Wir haben, wenn Sie mal ein Jahr zurückdenken, in Deutschland vor allem über die Konjunkturpakete geredet und haben die Impfstoffbestellung der EU überlassen. Die EU hat aus industriepolitischen Gründen nicht so entschieden, wie es richtig gewesen wäre: Man hat sehr lange auf Sanofi gewartet, doch die kamen mit ihrem Impfstoff nicht rechtzeitig rüber. Es wurde schlichtweg versäumt, die richtigen Impfstoffe zu bestellen. Man hätte viel früher alle sechs Impfstoffe auf Verdacht kaufen sollen. Und vor allem hätte man mit BioNTech verhandeln sollen, wie es die Amerikaner und Engländer schon im Sommer letzten Jahres gemacht haben. Schlussendlich kamen die Verträge erst im November zustande und das mit der fadenscheinigen Begründung, man hätte so lange verhandeln müssen, um die Preise zu drücken. Das ist eine völlig unsinnige Zielsetzung gewesen. Wenn man die Preise drückt, liefern die Hersteller ja nicht, sondern sie verkaufen an andere Länder in der Welt, die höhere Preise zahlen. Das ist gründlich schiefgegangen. Deutschland hat sich da weggeduckt, das Thema der EU überlassen, statt seine ganze Kraft in den Bestellvorgang der Impfstoffe zu stecken.

Ganz persönlich: Wie haben Sie die Krise inklusive Lockdown bislang erlebt?

Ich gehöre zu den Glücklichen, die das nicht weiter betroffen hat. Ich bin ja Wissenschaftler und sitze sowieso zu Hause an meinem Schreibtisch. Zumal ich jetzt auch schon fünf Jahre emeritiert bin. Da hielt sich der Effekt in Grenzen. Das Problem war natürlich, dass man seine Freunde, seine Kinder und seine Enkel nicht mehr sehen konnte. Oder nur noch auf Distanz. Und das war eine erhebliche Beeinträchtigung. Da bin ich froh, dass das jetzt vorbei ist, nachdem wir geimpft sind.

Vielen macht besonders die allseitige Planlosigkeit zu schaffen. Was setzte Ihnen zu?

Im März letzten Jahres war es noch die epidemiologische Sorge. Ich habe Tag und Nacht gelesen, was es über die einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu lesen gab. Doch das wurde im Laufe der Zeit durch die Sorge um unser Geldsystem ersetzt. Als ich gesehen habe, wie hemmungslos man hier Geld verteilt und auch vor allem Geld gedruckt hat … Unter dem Schutz der Coronakrise hat die EU eine andere Gestalt angenommen. „Never waste a good crisis“, hat Churchill einmal gesagt. Das war wohl die Devise: Man hat sehr schnell die alte Forderung nach einem Umbau des EU-Budgets in Richtung eines Transfersystems erfüllt, indem man diesen Wiederaufbau-Fonds schon im Frühjahr letzten Jahres ins Gespräch gebracht hat. Und das Volumen hat man von den angesprochenen 750 Milliarden schon auf 1,5 Billionen Euro ausgeweitet – alles kreditfinanziert und alles aus der Druckerpresse. Obwohl natürlich in Wahrheit elektronisch gedruckt wird und das Geld heute eine elektronische Erscheinungsform hat.

Zu Beginn der Pandemie sprachen viele noch von Post-Corona oder dem „New Normal“. Wird es das überhaupt geben?

Die Welt wird natürlich anders sein, denn wir haben gelernt, über den Versandhandel stärker einzukaufen. Das wird im Wesentlichen bleiben. Und wir haben gelernt, mehr digital zu kommunizieren. Das ist für viele ein neues Wissen, und es sind neue Technologien, die es in dieser Form vorher nicht gab, die sich jetzt in unserem Alltag etabliert haben. Man wird also Konferenzen auch in Zukunft nicht mehr unbedingt physisch durchführen wie in der Vergangenheit. Jedenfalls nicht mehr so häufig. Das wiederum geht zulasten des Flugverkehrs und bedeutet eben auch eine klimapolitische Entlastung. Und es hat natürlich auch Konsequenzen im Hinblick auf die Lebensweise der Menschen, wenn sie nicht mehr so viel persönlich kommunizieren müssen. Es wird mehr Arbeitsverträge geben, die einen größeren Teil der Zeit mit Homeoffice möglich machen, sodass man nicht mehr so häufig ins Büro fahren muss. Und das wiederum bedeutet, dass die Menschen Wohnstätten suchen werden, die weiter von den Zentren entfernt liegen. Und das bedeutet wiederum, dass speziell die ländlichen Gebiete eine stärkere Preisentwicklung erleben werden.

Und aus finanzieller Sicht? Werden die Menschen mehr sparen oder mehr investieren?

Die Leute wollen nicht mehr sparen. Sie haben viel zu viel gespart, weil sie nichts ausgeben konnten. Sie werden jetzt die Konsumwelt nutzen, um die Ersparnisse zu verbrauchen.

Wofür?

Reisen. Man will jetzt endlich mal wieder raus und was anderes sehen. Dazu kommt die Bereitschaft, Anschaffungen größerer Art zu machen, also das Investment in langlebige Konsumgüter wie beispielsweise Autos. Und ungeachtet dessen bleiben natürlich Investitionen in Immobilien vor allem eins: attraktiv.

Das Interview führte Wilma Fasola.

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