„Der Staat wird heillos überfordert sein“

Der Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn prophezeit Deutschland schwere Jahre. Schuld daran sei aber nicht nur der Ukraine-Krieg, sagt der ehemalige ifo-Präsident.

Münchner Merkur, 23./24. April 2022, Nr. 93, S. 3.

Der Ukraine-Krieg hat einen dunklen Schatten auf die Weltwirtschaft gelegt. Die Energiepreise explodieren, die Inflation ebenso. Viele Deutsche machen sich Sorgen um die Zukunft. Auch ohne den Krieg wäre das berechtigt, sagt Hans-Werner Sinn. Insbesondere habe Deutschland den demografischen Wandel verschlafen. Der Staat könne den uns bekannten Wohlstand künftig nicht mehr garantieren, glaubt der 74-jährige ehemalige Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München. Ein Gespräch über Versäumnisse der Vergangenheit, die aktuelle Lage und das, was kommen könnte.

Herr Sinn, deutsche Ökonomen streiten darüber, ob ein Gas-Embargo gegen Russland vertretbar wäre. Ihre Einschätzung?

Ich halte ein Gas-Embargo nicht für sinnvoll. Die Bundesregierung hat hier die richtige Position. 48 Prozent der deutschen Haushalte heizen mit Gas – und die Hälfte des Gases kommt aus Russland. Ohne das russische Gas kommt Deutschland zumindest kurzfristig in massive Schwierigkeiten. Die Rechnungen, die da gemacht werden bezüglich eines nur geringen Einbruchs des Bruttoinlandsprodukts, sind nicht zielführend, weil das Bruttoinlandsprodukt gar keine Importe erfasst, also auch nicht den unmittelbaren Schaden durch fehlende Gasimporte. Wenn wir frieren, weil das Gas fehlt, taucht das in diesen Rechnungen nicht auf.

Wäre der Staat in der Lage, durch Finanzhilfen Zusammenbrüche zu verhindern – so wie bei Corona?

Nein. Durch Finanzhilfen kann er das Gas nicht herbeischaffen. Es fehlen Terminals für LNG, also Flüssiggas. Die ersten werden 2026 betriebsbereit sein. Und das schwimmende Terminal, das eventuell Ende des Jahres verfügbar sein wird, hat eine viel zu kleine Kapazität.

Wir müssen also Gas aus Russland bis auf Weiteres annehmen?

In der Tat. Die einseitige Abhängigkeit von Russland hat uns in eine Falle bugsiert. In dieser Falle zappeln wir jetzt herum.

Wir haben unsere Energieversorgung an die Russen delegiert, unsere Sicherheit den USA anvertraut und unser Wachstum den Chinesen. Waren wir besonders geschäftstüchtig oder besonders dumm?

Geschäftstüchtig waren wir, aber nur im betriebswirtschaftlichen Sinne. Es fehlte eine kluge staatliche Strukturpolitik. Es wäre sicher nicht richtig gewesen, gänzlich auf die russische Energie zu verzichten – aber es war auch nicht richtig, sich derart abhängig zu machen. Unsere Energiequellen sind zu wenig diversifiziert. Das gilt insbesondere auch bezüglich der Entscheidung, im Jahr 2011 nach der Havarie von Fukushima aus einer augenblicklichen öffentlichen Stimmung heraus die Atomkraftwerke abzuschalten. Das war leichtfertig und falsch.

Der Westen hofft, über Sanktionen den Krieg beenden zu können. Ist diese Hoffnung realistisch?

Es gibt ja zwei Typen von Sanktionen. Die eine Sanktion, die von den USA betrieben und von Europa unterstützt wird, ist, den Russen das Geld vorzuenthalten, das sie früher durch den Export von Ressourcen verdient haben. Die Devisenbestände der Russen bei den westlichen Zentralbanken zu konfiszieren heißt, die Zahlungen für bereits geliefertes Gas im Nachhinein zurückzurufen. Das macht den Westen reicher und die Russen ärmer. Der andere Typ von Sanktion ist, dass wir kein neues russisches Gas mehr kaufen. Damit schädigen wir zwar auch die Russen ein bisschen – aber vor allem uns selbst. Die Russen haben nämlich China als alternativen Kunden. Die Pipeline „Power of Siberia“ liefert schon Gas nach China, eine neue Leitung, „Power of Siberia II“, die den westlichen Teil des Leitungsnetzes der Russen mit Peking verbindet, ist schon vereinbart. Die darüber fließenden Gasmengen können die Russen den Chinesen schon jetzt für Kredite verpfänden. Der Westen kann Russland also den Gashahn abdrehen, nicht aber den Geldhahn. Seine Embargopolitik treibt Russland in die Arme Chinas und stärkt gerade dasjenige Land, das die USA in der Zukunft am meisten werden fürchten müssen. Solange wir China nicht im Boot haben, können wir Russland mit Sanktionen nicht niederringen.

Was halten Sie von dem Vorschlag, Gas mit Importzöllen zu belegen?

Das würde den Russen einen Teil ihrer Einnahmen nehmen, doch ebenfalls bedeuten, dass sie lieber an China und Indien und über sie an den Rest der Welt verkaufen. Wenn der Eimer mehrere Löcher hat, nützt es nichts, eines davon zu stopfen.

Viele europäische Länder, darunter Frankreich, machen Druck auf Deutschland, die Gaslieferungen endlich zu stoppen.

Deutschland hatte schon mit der Sowjetunion – bei allen Krisen und Kriegen, die es gab – stets stabile Lieferbeziehungen. Darauf aufbauend hat man sich auf die Gaslieferungen verlassen, und es wird ja auch weiter geliefert. Die Gaslieferungen einzustellen, kann man als westlicher Verbündeter leicht fordern, wenn man selber nicht so abhängig ist wie wir. Es gibt im Übrigen noch andere Länder, die viel russisches Gas beziehen, zum Beispiel Österreich und Italien.

Der Krieg in der Ukraine lässt die Preise explodieren, die Deutschen sind verunsichert. Sind die guten Zeiten für die nächsten zehn, 15 Jahre vorbei?

Nicht nur für die nächsten 15 Jahre, sondern für eine längere Periode. Das liegt zum einen daran, dass die Grünen uns die billige Energie ohnehin abstellen wollen. Zum anderen liegt es daran, dass die demografischen Probleme überhandnehmen. Das wissen wir eigentlich schon seit Anfang der 80er-Jahre. Wir haben nun mal die Baby-Boomer, die heute 56- bis 60-Jährigen, die bald in Rente gehen wollen. Hinter dieser Bevölkerungskohorte kommen nicht mehr allzu viele neue Menschen nach. Wir haben ein riesiges Versorgungsproblem, weil die Arbeitsbevölkerung wegbricht. Einige sagen dazu Facharbeitermangel, aber es geht in Wahrheit um alle Berufsschichten. Deutschland ist besonders betroffen, weil der Pillenknick bei uns früher kam als in anderen Ländern.

Der Bund ist dieses Problem bis heute nicht wirklich angegangen.

Es gibt eine breite wissenschaftliche Diskussion über mögliche Lösungen. Eine dieser Diskussionen hat die Regierung damals in Form der Riester-Rente aufgegriffen – allerdings viel zu mickrig und mit viel zu vielen Fehlern behaftet. Das Konzept entsprang ja der Erkenntnis, dass die Deutschen das Geld, das sie nicht mehr in die Erziehung ihrer Kinder investieren, weil sie zu wenig davon haben, sparen sollten. Aber es hätte attraktive Sparformen geben müssen. Hätte man auf Aktien statt auf festverzinsliche Anlagen gesetzt, hätte aus Riester ein erkleckliches Vermögen entstehen können. Norwegen macht uns mit seinem Staatsfonds vor, wie erfolgreich eine Aktienstrategie sein kann. Festverzinsliche Anlagen gelten als mündelsicher, doch bei einer Inflation sind gerade sie extrem gefährdet.

Stichwort Inflation. Wir reden heuer schon von sechs Prozent, vielleicht mehr. Aber die Europäische Zentralbank (EZB) traut sich nicht, die Zinsen anzuheben, weil sie befürchtet, dass die Konjunktur leidet.

Das Mandat ist ganz eindeutig im Maastrichter Vertrag geregelt: Die EZB muss die Preise stabil halten und darf keine Abwägung mit anderen Zielen wie zum Beispiel Wachstum oder Vollbeschäftigung vornehmen. Hier gibt es überhaupt nichts zu debattieren. Die EZB muss handeln und die Preise stabilisieren. Einige sagen ja, die EZB habe die Preissteigerungen nicht verursacht, also müsse sie dagegen auch nichts tun. Falscher kann man nicht argumentieren, denn das Mandat stellt nicht auf die Ursachen der Inflation ab, sondern die Möglichkeiten, sie zu bekämpfen. Und die bestehen nun einmal in Zinserhöhungen. Im Übrigen hat die Zentralbank die Preissteigerungen sehr wohl mit verursacht – über ihre Staatspapier-Kaufprogramme. Mit frisch geschaffenem Zentralbankgeld wurden Staatspapiere für über 4000 Milliarden Euro gekauft. Dadurch hat die EZB die Zinsen für Staatspapiere runtergedrückt und die Staaten ermuntert, sich zu verschulden. Ein zweiter Effekt kommt hinzu: Die EZB hat, indem sie der Zinswende der Amerikaner nicht folgte, eine Abwertung des Euro verursacht. Diese Abwertung übertrug sich eins zu eins in höhere Importpreise – auch die Preise importierter Energie.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sagt, wir müssen die Atommeiler länger laufen lassen und Fracking neu diskutieren. Die Grünen sind gegen beides. Wer hat Recht?

Söder. Wir haben noch drei Atomkraftwerke, die betriebsbereit sind, und drei, die letztes Jahr abgestellt wurden. Insgesamt können mindestens fünf bis sechs Kraftwerke in Betrieb gehalten oder genommen werden. Und es handelt sich nach den Festlegungen der EU dabei um grüne Energie. Was man jetzt tun wird, ist, die Kohlekraftwerke verstärkt zu nutzen Das ist aus Sicherheitsaspekten vertretbar, denn Braunkohle liegt auf deutschem Territorium. Diese Energie kann uns keiner nehmen – aber sie ist natürlich CO2-schmutzig.

Und Fracking?

Grundsätzlich ist Fracking genauso gut oder genauso schlecht wie andere fossile Quellen – aber es ist zusätzliches CO2. Wir brauchen CO2-arme Energiequellen, und da bietet sich die Atomkraft an.

Mit den Grünen dürfte das nicht so einfach werden.

Ich habe den Grünen nie abgenommen, dass sie am Klimathema so ernsthaft interessiert waren, wie sie taten. Denn dann hätten sie die Kernkraft nicht verteufelt. Die Grünen sind aus der Anti-Atomkraft-Bewegung entstanden. Als das Klimathema aufkam, wurden sie zunächst auf dem linken Fuß erwischt. Dann aber machten sie sich auch dieses neue Thema zu eigen und schwangen sich mutig zum Doppelausstieg aus Kernkraft und Kohle auf. Spätestens Putin hat nun klargemacht, dass ihre Energiewende ein Scherbenhaufen ist. Der Flatterstrom aus Wind und Sonnenenergie, auf den sie setzten, braucht als Komplement zwingend den Strom aus Gaskraftwerken, um während der vielen Dunkelflauten die Stromversorgung zu sichern. Der grüne Wasserstoff, von dem sie träumen, kann zwar auf längere Frist auch Ersatz bieten, doch wird er aus den französischen Elektrolyseuren stammen, die mit Atomstrom betrieben werden.

Viele wissen nicht mehr, was sie mit dem Ersparten machen sollen. Aktien? Immobilien? Oder droht auch hier ein Einbruch, weil die Zinsen steigen?

Schwer zu sagen. Solange die Zinsen nicht so schnell steigen wie die Inflationsrate, bleibt es rentabel, in Aktien oder Immobilien zu gehen.

Was muss und kann der Bund tun, um all diese Probleme zu schultern?

Der Bund muss vor allem mit dem Schuldenmachen aufhören und wieder eine langfristige Strukturpolitik betreiben. Die Regierungen haben in der Pandemie das Geld wie Manna vom Himmel regnen lassen – und gleichzeitig wurden überall Lockdowns verkündet. Das war das Streichholz, mit dem die Inflation entzündet wurde. Wir müssen die Nachfrage jetzt an das verminderte Angebot anpassen und gleichzeitig das Angebot vergrößern über eine geschickte Energie- und Strukturpolitik, wie sie in der Nachkriegszeit von verschiedenen bayerischen Staatsregierungen betrieben wurde. Die EZB muss gleichzeitig die Zinsen erhöhen, um die private und staatliche Kreditnachfrage einzubremsen. So schön die Begründungen für neue Schulden sein mögen – Klimarettung, Bildung, Infrastruktur: Schulden sind unmittelbar inflationär. Man kann diese wichtigen Dinge über Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen in anderen Bereichen finanzieren.

Und wie lösen wir die demografischen Probleme?

Wir müssen die wenigen Kinder, die wir haben, besser ausbilden – vor allem die vielen Migrantenkinder. Wir brauchen eine verpflichtende Vorschulerziehung, um diese Kinder besser an die deutsche Sprache heranzuführen. Und die Schulen müssen besser funktionieren. Die letzten beiden Jahre waren die reinste Katastrophe. An alle hat man gedacht, nur nicht an unsere Kinder. Die Schulen kamen von einem Lockdown in den nächsten, der Ersatzunterricht am Computer war miserabel. Den Kindern wurden ihre Zukunftschancen genommen. Außerdem brauchen wir eine andere Familienpolitik, damit die Geburtenrate wieder hochgeht. Zu lange hat sich die Politik auf den Irrglauben verlassen, sie könne den Familien schadlos die Hauptlast der Sicherung der Staatsfinanzen aufbürden, in dem sie für den Nachwuchs an Steuer- und Beitragszahlern sorgen.

Wie eng wird der Gürtel? Stehen wir erst am Anfang einer negativen Wohlstandsentwicklung?

Ja, so ist das. Und dass es so kommen wird, ist nicht neu. Wissenschaftler prognostizieren das schon lange, doch ist der öffentliche Diskurs zu kurzatmig, um das zu hören.

Was ist denn Ihre Botschaft an die Bürger?

Sorgt selber für euch. Glaubt nicht daran, dass der Staat das schafft. Der Staat wird heillos überfordert sein mit den sozialpolitischen Aufgaben. Die sozialen Sicherungssysteme sind nicht in der Lage, die Entwicklung des Lebensstandards so fortzuführen, wie wir es gewohnt sind. Je früher das jeder erkennt, desto mehr wird er Vorsorge betreiben für die späteren Lebensjahre. Jungen Menschen kann man nur raten: Besinnt euch auf traditionelle Familienbilder, seht zu, dass ihr Kinder habt, damit ihr mit diesen Kindern alt werden könnt. Der Zusammenhalt in der Familie wird angesichts der Schwierigkeiten des Staates immer wichtiger werden.

Das Interview führten Georg Anastasiadis und Wolfgang Hauskrecht.

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