Die ökonomischen Kollateralschäden der Gaspreisbremse

Um ihre Gaspreisbremse zu finanzieren, stellt die Politik 200 Milliarden Euro bereit. Das führt zu Fehlanreizen – und heizt die Inflation weiter an. Ein Gastbeitrag.
Hans-Werner Sinn

WirtschaftsWoche, 7. Oktober 2022, Nr. 41, S. 41.

Die Leistung der Marktwirtschaft besteht darin, dass sie mithilfe des Preismechanismus Knappheiten auf effiziente, schadensminimierende Weise bewältigt. Das wusste schon Ludwig Erhard, als er 1948, vor der Gründung der Bundesrepublik, als zuständiger Wirtschaftsdirektor der Besatzungszonen die Preisbindung aufhob und den Boden für das deutsche Wirtschaftswunder bereitete.

Am Gasmarkt hat sich die Bundesregierung nun gegen einen solchen Ansatz entschieden. Für die vom Wohlstand verwöhnte deutsche Gesellschaft will sie stattdessen eine „Gaspreisbremse“ einführen. Das ist ein Begriff, bei dem es Erhard geschüttelt hätte. Normalerweise führt eine Preisbremse zu einer Rationierung. So soll es aber nicht kommen, denn die Regierung legt viel Geld auf den Tisch, um den Marktpreis für Gas aufzuspalten – in einen Konsumentenpreis, der gedrückt wird, und einen Produzentenpreis, der erhöht wird. Der Staat will die Verbraucher schonen und für die Netzbetreiber ein „Sondervermögen“ von 200 Milliarden Euro mobilisieren. Damit sollen sie sich das benötigte Gas auf dem internationalen Markt zu höheren Preisen besorgen können als denen, die die Nachfrager zahlen. Tatsächlich handelt es sich wie schon bei vorigen Aktionen dieser Art bei dem Sondervermögen um Sonderschulden, und bei der Preisbremse um eine Preissubvention.

Das Problem dieser Lösung ist, dass viele deutsche Nachbarstaaten ähnlich vorgehen und die Gaskäufe ebenfalls subventionieren. Dadurch entsteht ein staatlich administrierter Überbietungswettbewerb auf dem europäischen Gasmarkt. Dieser Wettbewerb treibt die Produzentenpreise in den Himmel, macht die Gasproduzenten und andere heimische Energieanbieter immer reicher, kostet Unsummen an Geld und unterminiert die Sparanreize beim Gasverbrauch.

Sicher: Bei steigenden Produzentenpreisen wird mehr Gas über LNG-Terminals aus Amerika und über Pipelines aus Norwegen und Afrika fließen. Außerdem dürfte die Türkei noch mehr russisches Gas in die europäischen Netze leiten als ohnehin schon. Doch wird die Dämpfung der Konsumentenpreise verhindern, dass die deutschen Gasverbraucher ihren Teil der Anstrengungen leisten. Das behindert den dringend nötigen Strukturwandel zum Ersatz des Gases durch andere Energieträger.

Die Bundesregierung will den Sparanreiz immerhin erhalten, indem sie den Preisdeckel nur auf einen Teil des Verbrauchs bezieht, zum Beispiel auf einen bestimmten Prozentsatz der Vorjahreswerte. Das ist ein löblicher Versuch, den Gaskauf zu subventionieren, ohne die Gasnachfrage zu steigern. Doch ob dieser Trick funktioniert, ist noch nicht ausgemacht. Viele Menschen werden sich nicht die dafür nötigen Gedanken machen und einfach nur ausgeben, was sie können, um nicht zu frieren. Je billiger die Gesamtrechnung für die bezuschussten Mengen ist, desto mehr Gas werden sie erwerben.

Und selbst wenn viele Nachfrager klug reagieren und die Zuschüsse nicht für den Gaskauf verwenden, bleibt doch das Problem, dass 200 Milliarden Euro an keynesianischem Schuldendampf in den Wirtschaftskreislauf eingeführt werden. Wenn, wie die Regierung hofft, dieses Geld die Gasnachfrage nicht nach oben treibt und somit nicht in die Taschen der Gasproduzenten fließt, sondern den Verbrauchern selbst zugute kommt, steht es für den Kauf anderer Güter zur Verfügung. Das aber wirkt in der Stagflation, in der sich die deutsche Wirtschaft derzeit befindet, inflationär. Ohnehin schon viel zu viel Nachfrage stößt auf ein durch Lieferprobleme begrenztes Angebot.

15 Prozent Inflation möglich

Deutschland leidet unter einer galoppierenden Inflation, die die europäische Statistikbehörde Eurostat schon heute mit elf Prozent angibt. Aufgrund der Zunahme der gewerblichen Erzeugerpreise um zuletzt 46 Prozent droht dieser Wert in den nächsten Monaten noch weiter anzusteigen – möglicherweise auf bis zu 15 Prozent. Angesichts dieser Sachlage ist jedwede Schuldenaufnahme, auf welcher Rechtsbasis auch immer, ökonomisch nicht zu verantworten.

Es ist daher verständlich, wenn die Europäische Union nun von den Staaten verlangt, zur Vermeidung neuer Schulden wenigstens die Sondergewinne, die im Strom- und Gassektor durch die exorbitanten Preissteigerungen bei heimischen Anbietern entstehen, durch geeignete Steuern abzuschöpfen. Doch wird die Abschöpfung nicht reichen, weil ein großer Teil der Sondergewinne bei ausländischen Lieferanten entsteht, nicht zuletzt in Russland und der Türkei.

Der politische Anstand gebietet es, nun mit der Schuldenfinanzierung von Krisen endlich aufzuhören. Stattdessen sollten die Politiker Ross und Reiter benennen – und den Wählern sagen, wer künftig den Rest der 200 Milliarden Euro aufbringen soll. Die schuldenfinanzierten Sondervermögen jedenfalls, die zur inflationären Enteignung einer wehrlosen Gruppe von Sparern und Geldhaltern führen, müssen endlich ein Ende haben.

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