Ein Dickschädel

Christian Siedenbiedel, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 4. März 2012, Nr. 9, S. 40.

Er ist der ökonomische Stichwortgeber der Nation. Hartnäckig kämpft der Chef des Münchener Ifo-Instituts für seine Überzeugung: So lange, bis jeder weiß, was Target 2 heißt.

Ein dunkler Anzug mit Weste, den Kopf mit dem markanten Bart ein wenig zurückgeneigt, die Augen kampflustig blitzend: So kennt Fernseh-Deutschland Hans-Werner Sinn. Der 63 Jahre alte Ökonom und Chef des Münchener Ifo-Instituts ist Stammgast in den Talkshows von Günther Jauch bis Sigmund Gottlieb. Alle laden ihn ein - weil Sinn selbst die frechste Frage vollkommen ironiefrei aus der Perspektive von Angebot und Nachfrage beantwortet.

Seit einem Jahr allerdings kämpft Sinn für ein Thema, das zu sperrig ist für Talkshows - und das selbst viele seiner Professoren-Kollegen nur nach eingehender akademischer Analyse verdaulich finden. Der Ökonom warnt vor Milliarden-Risiken in der Bilanz der Deutschen Bundesbank. „Target 2“ ist der sperrige Name eines Verrechnungssystems für grenzüberschreitende Zahlungen in Europa, das bis vor kurzem selbst im engeren Zirkel der Notenbankexperten allenfalls in Grundzügen bekannt war.

Der Ökonom liebt die Rolle des öffentlichen Intellektuellen. Einen guten Streit genießt er

Sinn denkt, sagt, schreibt, dass durch die Schuldenkrise in Europa in diesem Target-System für Deutschland Risiken in einer Größenordnung von mehr als einer halben Billion Euro entstanden seien. Wenn in absehbarer Zeit ein Land aus dem Euro austreten sollte oder der Euro zerbreche, werde Deutschland Unsummen verlieren.

Die Unermüdlichkeit, mit der Sinn seine Warnung vorträgt, ist typisch für den gebürtigen Westfalen. Menschen aus dieser Region sagt man Sturheit nach. Sinn ist der Dickschädel unter den deutschen Wirtschaftsprofessoren. „Er kann nerven und ausgesprochen penetrant sein, wenn er ein Thema ins öffentliche Bewusstsein bringen will“, sagt ein Wegbegleiter von der Universität. Es ist nicht das schlechteste Vorgehen, wenn man etwas durchzusetzen will - schon in der Bibel wird bekanntlich von einer Witwe berichtet, die allein durch Hartnäckigkeit bei einem Richter zu ihrem Recht kam.

Den entscheidenden Hinweis auf „Target 2“ bekam Sinn ausgerechnet von einem früheren Präsidenten der Deutschen Bundesbank. „Im Spätsommer 2010 hat mich Helmut Schlesinger auf die Salden hingewiesen“, erinnert Sinn sich. Dem 87-jährigen Pensionär war in der Bilanz seiner früheren Institution ein geheimnisvoller Posten aufgefallen: Forderungen der Bundesbank im dreistelligen Milliardenbereich gegen das System der europäischen Notenbanken. Schlesinger konnte sich nicht erklären, was dahintersteckt. Sinn auch nicht - aber genau das reizte den Jagdinstinkt des Wissenschaftlers. „Seitdem hat mich das Thema verfolgt“, sagt Sinn. Man könnte auch sagen: Seitdem hat Sinn alle mit dem Thema verfolgt.

„Deutschland könnte durch Target 2 eine halbe Billion Euro verlieren“

Die Bundesbank selbst wiegelte zunächst ab und wollte in „Target 2“ keinen Grund zur Besorgnis sehen. Es handele sich um „irrelevante Salden“, ließ sie damals verlauten, allenfalls von statistischer Bedeutung. Doch ein Hans-Werner Sinn lässt sich nicht abspeisen. Im Gegenteil: Wenn er auf Widerstände stößt, nimmt seine Energie noch zu. Innerhalb seines Forschungsinstituts stellte Sinn vier Hypothesen auf, was hinter den geheimnisvollen Salden stecken könnte. Seine Kollegen bat er, alle Argumente vorzutragen, die eine dieser Thesen falsifizieren könnten.

Wenige Wochen später hatte Sinn die Detektivarbeit so weit abgeschlossen, dass er einen ersten Artikel mit den Salden-Zahlen für die „Wirtschaftswoche“ verfasste. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ließ er die inhaltliche Erklärung folgen.

Sinns Befund war ebenso erschreckend wie umstritten: Viele Länder Südeuropas haben über „Target 2“ hohe Schulden bei der Europäischen Zentralbank aufgebaut. Umgekehrt habe die Bundesbank gewaltige Forderungen gegen die EZB. Sinn warnte, das könnte dramatische Folgen haben, wenn ein Land aus dem Euroraum austreten sollte oder der Euro zerbreche: Im ersten Fall wären „nur“ die Schulden des austretenden Landes weg. Die Ausfälle würden auf die restlichen Länder umgelegt. Zerbreche aber der Euro selbst, würden womöglich alle Forderung der Bundesbank gegen das System hinfällig. „Deutschland könnte rund eine halbe Billion Euro verlieren“, sagt Sinn.

Die Darlegungen der Professors sorgten für Aufsehen - und viel Widerspruch. Er übertreibe, sagten die einen. Er habe grobe Fehler in der Analyse gemacht, sagten die anderen. Sinn aber kämpfte weiter. Sinn ließ sich nicht beirren, schrieb Gastbeiträge, gab Interviews und blogt ohne Ende im Internet.

Ende vergangener Woche nun konnte Sinn vermelden: „Das ist der Durchbruch. Die Bundesregierung kann über das Thema nun nicht mehr hinwegsehen.“ Was war passiert? Bundesbankpräsident Jens Weidmann hatte in einem Brief an den Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, vor den Gefahren aus „Target 2“ gewarnt. Er fordert konkrete Schritte und strengere Sicherheitsregeln, damit die Risiken nicht immer größer würden.

Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel habe die Target-Salden jetzt im Blick, hört man aus Berlin. Aus Sinn, dem nervigen Professor, ist in der öffentlichen Wahrnehmung nun Sinn, der kluge Warner, geworden.

Wieder einmal, muss man sagen: Ein Gefühl für relevante Themen zeigte „Deutschlands klügster Wirtschaftsprofessor“, wie die „Bild“-Zeitung ihn einst getauft hat, in den mehr als 20 Jahren seines öffentlichen Wirkens immer wieder. Einen Ruf als fachlich versierter Ökonom hatte Sinn seit langem - in Deutschland wie international.

Martin Feldstein von der Harvard University etwa ist stets voll des Lobes für „Hans-Wörnör“. Und ein junger Professoren-Kollege, der nicht genannt werden will, nennt Sinn sogar den „größten deutschen Ökonomen seiner Generation“.

Doch hohes Ansehen innerhalb der akademischen Welt war ihm nie genug. Sinn hat früh die Rolle des ökonomischen Stichwortgebers der Republik ergriffen: „Basar-Ökonomie“ heißt eine dieser handlichen Formeln, die besagt, dass deutsche Produkte immer mehr ausländische Wertschöpfung enthalten. 1991, nach der Wiedervereinigung, hat er zusammen mit Ehefrau Gerlinde, einer Ökonomin, mit der er seit 1971 verheiratet ist, unter dem Titel „Kaltstart“ wirtschaftspolitische Fehler bei der deutschen Vereinigung anprangert. In dem Bestseller „Ist Deutschland noch zu retten?“ forderte Sinn später eine grundlegende Reform des Arbeitsmarktes. Er sieht sich damit heute - in der ihm eigenen Bescheidenheit - als wahren Vater von Gerhard Schröders „Agenda 2010“.

Auch zum Klimaschutz meldete der begeisterte Hobby-Gärtner Sinn sich zu Wort. In dem Buch „Das grüne Paradoxon“ kritisierte er, Energiesparen sei nutzlos, solange die Ölscheichs stur blieben und ihr Angebot nicht verknappten. Die Energie werde dann schlicht woanders verbraucht. Es fiel auf, mit welcher Akribie der Ökonom sich dabei in Details etwa der Windradtechnik hineingefuchst hat. Auch das gehört zum Dickkopf - Hartnäckigkeit bei der Recherche.

In Sinns Buch „Kasino-Kapitalismus“ bekamen es 2009 die Banker ab. Wobei Sinn nie zu erwähnen vergaß, dass er vor der Finanzkrise immer schon gewarnt habe - nämlich in seiner Doktorarbeit, Ende der siebziger Jahre.

Sinn pflegt den Habitus eines öffentlichen Intellektuellen, der mit einer gesicherten Professorenstelle im Rücken wenig taktisch-politische Rücksichten nehmen muss - anders als die immer ängstlich auf ihre Wiederwahl bedachten Politiker. Konfliktscheu ist er jedenfalls nicht: „Einen guten, sachlichen Streit kann ich genießen“, sagt er.

Auch zum Klimaschutz meldet Sinn, der Hobby-Gärtner, sich gerne zu Wort

Natürlich sind Sinns öffentliche Auftritte auch Marketing - für sich, seine Bücher und sein Institut. Und wenn er unpopuläre Themen wie „Target 2“ aufgreift, steckt darin die Spekulation, daraus könnte etwas werden. So hartnäckig aber, wie Sinn das betreibt, geht das nur mit einem gewissen Sendungsbewusstsein. Als junger Mann habe er eigentlich Missionar werden wollen, hat Sinn einmal erwähnt. Darauf soll seine Frau entgegnet haben: „Aber Hans-Werner, das bist Du doch.“

Eine gewisse Liebe zur Provokation jedenfalls ist ein durchgängiges Motiv in Sinns Leben. So ist „HWS“, wie er gern unterschreibt, für viele eine Reizfigur. Vor allem Politiker aus dem linken Spektrum sehen in dem Talkshow-Dauergast den Inbegriff des verhassten Neoliberalismus: Jemanden, der ökonomische Prinzipien absolut setzt und es im Gegenzug an Empathie und Herz fehlen lässt.

Sinn selbst bezeichnet sich als Sympathisanten der ordoliberalen Lehre. Zugleich weiß er von wechselhaften Lob und Tadel aus den verschiedenen politischen Lagern zu berichten. „Für die aktivierende Sozialhilfe wurde ich von vielen Linken kritisiert, für das grüne Paradoxon von den Grünen“ sagt er. „In dem Buch ,Kasino-Kapitalismus’ dagegen trete ich für mehr Regulierung ein - das entsprach dann wieder eher linken Positionen.“

In der Debatte um die Euro-Schuldenkrise warnt Sinn vor allem vor den Gefahren für Deutschland. Früh kokettierte er mit einem Euro-Austritt Griechenlands. Der Professor übernimmt damit die ansonsten weitgehend vakante Rolle eines Kämpfers für deutsche Ersparnisse und Zukunftchancen der jungen Generation. Eine Position, die ihm die Kritik einbrachte, die Welt aus einem nationalen Blickwinkel zu betrachten. Dem widerspricht Sinn nicht. „Als Beamter habe ich sogar einen Eid darauf geleistet, möglichst Schaden vom deutschen Volke abzuwenden.“

Der Mensch

Hans-Werner Sinn wird 1948 im westfälischen Brake geboren. Erste Erfahrungen mit Wirtschaft macht er im väterlichen Taxi-Betrieb. Nach dem Abitur studiert Sinn Volkswirtschaftslehre in Münster, wird in Mannheim promoviert und habilitiert sich. Seit 1984 ist er Wirtschaftsprofessor in München. Er leitet dort mittlerweile auch das Ifo-Institut und das von ihm aufgebaute „Center for Economic Studies“(CES). Von 1997 bis 2000 war Sinn Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören „Kaltstart“ (1991), „Ist Deutschland noch zu retten?“ (2003), „Die Basar-Ökonomie“ (2005), „Das grüne Paradoxon“ (2008) und „Kasino-Kapitalismus“ (2009).

Das Ifo-Institut

Das Ifo-Institut wurde 1949 als Informations- und Forschungsstelle (Ifo) für Wirtschaftsbeobachtung mit Mitteln des bayerischen Innenministeriums gegründet. Als Hans-Werner Sinn dort 1999 die Leitung übernahm, war das Institut praktisch pleite. Der Wissenschaftsrat hatte das Institut von einer reinen Forschungseinrichtung in den Status einer forschungsbasierten Serviceeinrichtung umgewandelt, was einen Verlust von 25 Prozent der Zuschüsse bedeutete. Sinn führte das Institut dichter an die Universität heran und konzentrierte die Arbeit auf politisch bedeutsame Bereiche wie Sozialpolitik und Konjunktur. Bekannt ist vor allem der Ifo-Geschäftsklimaindex.

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