10 Thesen zur Lage der deutschen Wirtschaft

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Weiß-Blaue Rundschau, 09./10.2001, S. 6

1. Eine wirkliche Umkehr des seit zwei Jahrzehnten anwachsenden Trends der Arbeitslosigkeit hat in Deutschland (mit Ausnahme weniger Bundesländer wie etwa Bayern) noch nicht stattgefunden. Der Boom des Jahres 2000 hat nur eine kurzfristige Linderung gebracht. Für das Jahr 2001 muss wegen des derzeit wieder steigenden Trends mit 3,8 Millionen Arbeitslosen gerechnet werden. Die Zahl von 3,5 Millionen Arbeitslosen kann im Jahr 2002 allenfalls kurzfristig erreicht werden.

2. Die Beschäftigung ist in den neuen Ländern beständig zurückgegangen, seit 1994 um nicht weniger als 16 %. Die Wertschöpfung je Erwerbsfähigen hatte in den Gebieten der ehemaligen DDR im Jahr 1996 ein Niveau von 60,4 % der entsprechenden westdeutschen Ziffer erreicht. Im Jahr 2000 lag dieses Niveau bei weiterhin sinkender Tendenz nur noch bei 57,4 %. In wirtschaftlicher Hinsicht sind die beiden Landesteile während der letzten vier Jahre weiter auseinandergedriftet, anstatt zusammenzuwachsen.

3. Auch im EU-Vergleich fällt Deutschland zurück. Deutschland ist beim wirtschaftlichen Wachstum seit der Mitte der neunziger Jahre das Schlusslicht unter den EU-Ländern. Mit einem Wachstum von nur 1,2 %, das für das Jahr 2001 erwartet werden kann, wird sich daran vorläufig nichts ändern.

4. Die Abgabenbelastung der von einem durchschnittlichen Arbeitnehmer erzeugten Wertschöpfung liegt in Deutschland mit knapp 67 % an der Weltspitze. Selbst Länder wie Holland oder Schweden belasten die Erträge der menschlichen Arbeit in geringerem Umfang. Die Steuerreform hat hieran nichts Wesentliches geändert. Wegen der Progression des Steuertarifs wird die marginale Abgabenbelastung des durchschnittlichen Arbeitnehmers, die im Jahr 2000 bei 68,1 % gelegen hatte, selbst in der Endstufe der Steuerreform (im Jahr 2005) noch 66,7 % betragen.

5. Ein Vorziehen der Steuerreform würde nur wenig zur Entlastung des Faktors Arbeit beitragen. Statt dessen sollten nach der Absenkung der Unternehmenssteuern nun endlich auch die lohnbezogenen Abgaben in erheblichem Umfang gesenkt werden. Eine deutliche Absenkung des Spitzensatzes der Einkommensteuer auf 40 % bei gleichzeitiger Verringerung des Progressionsgrades im mittleren Bereich ist ein Teil des erforderlichen und finanzierbaren Maßnahmenpakets.

6. Wegen Deutschlands demographischer Probleme droht die enorm hohe Abgabenlast, die der Faktor Arbeit zu tragen hat, in den kommenden Jahrzehnten noch weiter zuzunehmen. Bis zum Jahr 2035 wird sich die Zahl der "Alten" relativ zu den "Jungen" mindestens verdoppeln, mit absehbar dramatischen Effekten für die Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge.

7. Zur Begrenzung der Belastung mit Krankenversicherungsbeiträgen ist eine weitgehende Privatisierung er Krankenversicherung empfehlenswert.

8. Die Rentenversicherung sollte noch konsequenter in Richtung einer privaten Absicherung auf der Basis kapitalgedeckter Systeme reformiert werden. Die Staffelung der Rentenansprüche nach der Kinderzahl würde helfen, die notwendigen Entlastungen des Umlagesystems herbeizuführen. Kinderlosen kann zugemutet werden, das bei der Kindererziehung eingesparte Geld am Kapitalmarkt anzulegen, um sich so die Rente zu sichern, die von der geringen Zahl der zukünftigen Beitragszahler nicht mehr finanziert werden kann.

9. Die heutige Sozialhilfe erzeugt Arbeitslosigkeit, denn sie wird unter der Bedingung der Untätigkeit ausgezahlt und begrenzt deshalb die Löhne für einfache Arbeit nach unten hin. Würde sie unter der Bedingung des eigenen Einkommenserwerbs ausgezahlt, verschwände die Lohnuntergrenze im Tarifsystem. Durch niedrigere Löhne entständen neue Jobs, und doch ginge es den Betroffenen nicht schlechter, weil sie neben den Löhnen ja die Sozialhilfe erhielten.

10. Eine Politik der kleinen Schritte reicht nicht mehr aus, Deutschland wettbewerbsfähig zu machen, neue Wachstumskräfte zu entfalten und die Arbeitslosigkeit zurückzuführen. Die sozialstaatliche Absicherung ist in den letzten Jahrzehnten ohne Rücksicht auf ökonomische Anreizwirkungen immer weiter ausgebaut worden. Der fehlende ökonomische Sachverstand der verantwortlichen Politiker hat zu leistungsfeindlichen Sozialgesetzen geführt, die das Land in wirtschaftlicher Hinsicht mehr und mehr gelähmt haben. Nur ein großer Ruck, eine wirkliche Kehrtwende in der Wirtschafts- und Sozialpolitik kann die Lähmung überwinden.