Wohin geht die wirtschaftliche Entwicklung?

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Coaching, 01.03.2002, S. 3

Bereits seit mehreren Jahren hat Deutschland das niedrigste Wirtschaftswachstum in ganz Europa. Erinnern Sie sich nur an das jüngste Debakel um den knapp abgewendeten "blauen Brief" aus Brüssel. Wenn Deutschland nicht bald gegensteuert, werden sich die wirtschaftlichen Grundsatzprobleme noch weiter verschärfen:

1. Exorbitante Lohnkosten: Deutschland hat die höchsten Lohnkosten der Welt. Selbst Schweden, das Sozialstaat-Paradies, hat Anfang der 90er Jahre eine deutliche Lohnmäßigung vollzogen. Das Problem: Die asiatischen und osteuropäischen "Tiger" warten mit 10 bis 15 Prozent unseres Lohnkostenniveaus - und die Arbeitsplätze in Deutschland werden immer weniger.

2. Langfristig hohe Zinsen: Mit der Einführung des Euro entstand auch ein gemeinsames europäisches Zinsniveau. Die deutschen Unternehmen haben damit einen Wettbewerbsvorteil, nämlich günstige Finanzierungskredite 5 bis 6 Prozentpunkte unter dem Zinsniveau der anderen europäischen Länder, verloren.

3. Hohe Vereinigungskosten: Die Produktivität in Ostdeutschland liegt bei 57 Prozent des Westniveaus, die Löhne hingegen liegen bei 75 (real 85) Prozent, die Renten bei 110 (real 120) Prozent. Die Divergenz zahlt der Staat: Rund 70 Milliarden Euro jährlich überweist West an Ost. Finanziert wurde dies bisher durch Verschuldung, d. h. die dicke Rechnung kommt erst noch.

4. Erstarken des Euro: Die Abkehr von der D-Mark (Verminderung des Bargeldumlaufs, Flucht in andere Werte z. B. bei Schwarzgeldbesitzern) hat den Euro-Kurs nach unten gedrückt. Die Normalisierung des Bargeldumlaufs und ein wachsendes Interesse der DM-Flüchtlinge am Euro lässt jedoch eine Aufwertung des Euro im Laufe des Jahres 2002 erwarten.

Was kann die Politik tun, um Deutschland aus der wirtschaftlichen Schieflage zu befreien? Eine erste Reaktion wären Maßnahmen zur kurzfristigen Konjunkturbelebung. Beispiel USA: Dort wurden sofort nach den Terroranschlagen des 11. September Konjunkturprogramme i.H.v. insgesamt 1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestartet und die Zinsen auf ein Rekordtief von 2,0 Prozent gesenkt. Darüber hinaus bedarf es grundsätzlicher struktureller Maßnahmen: Sowohl die Tarifpolitik als auch die Sozialpolitik, die Rentenpolitik und nicht zuletzt die Bildungspolitik gehören auf den Prüfstand.

Professor Dr. Hans-Werner Sinn ist Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, München.