Warum der Euro steigt

Das wichtigste Indiz für den schwachen Euro war der Rückgang im Wachstum der D-Mark-Bargeldmenge.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Handelsblatt, 09.07.2002, S. 8

GASTKOMMENTAR

Vor mehr als eineinhalb Jahren hat der Autor in einem Artikel im Handelsblatt erstmals die These vertreten, dass der Euro bis zu seiner physischen Einführung schwächeln und danach wieder ansteigen werde. So ist es gekommen. In Zyklen fiel der Euro bis zum Februar 2002, dem Zeitpunkt der Beendigung des Währungsumtausches, und ab März zieht er wieder an, zuletzt bis fast auf die Parität mit dem Dollar.

Damals war als Hauptgrund die Flucht ausländischer, vornehmlich türkischer und osteuropäischer, Halter von D-Mark-Bargeld in andere Währungen angegeben worden. Die ausländischen Geldhalter, die noch 1995 etwa ein Drittel der D-Mark-Bargeldmenge hielten, hatten von der geplanten Abschaffung der D-Mark gehört, wussten aber nicht recht, was sie sich unter dem Euro vorstellen sollten. Jedenfalls hatten sie Angst, beim Umtausch übervorteilt zu werden, und wussten nicht einmal, wer den Umtausch vornehmen würde.

Außerdem war auf die Halter von europäischem Schwarzgeld hingewiesen worden, von denen zu vermuten war, dass sie kein Interesse daran haben würden, beim Umtausch am Bankschalter die Herkunft ihres Geldes offen zu legen.

Für die Theorie, für die es nur die anekdotische Evidenz gab, dass an den grenznahen Filialen der Bundesbank hohe Geldrückflüsse beobachtet wurden, liegen mittlerweile umfangreiche Indizien vor. So hatte die österreichische Notenbank in einer Umfrage unter Tausenden osteuropäischer Geldhalter noch im Mai 2001 festgestellt, dass sich von denjenigen, die sich eine Meinung gebildet hatten, mehr als vierzig Prozent nicht von der D-Mark in den Euro wechseln wollten.

Das wichtigste Indiz für die These war aber schon damals der sehr deutliche Rückgang im Wachstum der D-Mark-Bargeldmenge. Er hatte im Jahr 1997 begonnen, kurz nachdem das Ende der D-Mark auf dem Gipfel von Dublin festgemacht worden war, und damals hatte zeitgleich der Kursverfall der D-Mark begonnen.

In der Zwischenzeit beschleunigte sich der Rückgang des Wachstums, und ab dem Winter 2000/2001 begann die Bargeldmenge sogar absolut zu fallen. Bis zum Februar 2002 war die umlaufende D-Mark-Bargeldmenge um 90 Milliarden Euro gegen den Trend gefallen. Die Dramatik dieses Einbruchs stellt alle bislang beobachtbaren Geldmengenänderungen in den Schatten.

Parallel dazu ist auch die Euro-Bargeldmenge gefallen. Der Absturz lag bis zum März bei etwa 120 Milliarden Euro. Zum Bargeldeinbruch, den die Bundesbank registrierte, kamen also noch etwa 30 Milliarden Euro bei den anderen Ländern hinzu. Wenn man nicht unterstellen will, dass Deutsche mehr Schwarzgeld als andere hielten, kann man diese Entwicklung nur so interpretieren, dass der DM-Bargeldrückfluss aus dem Ausland den Löwenanteil der Geldmengenreduktion erklärt.

Das wichtigste Indiz für den schwachen Euro war der Rückgang im Wachstum der D-Mark-Bargeldmenge.

Der Bargeldrückgang begann viel zu früh, als dass er mit irgendwelchen technischen Gegebenheiten bei der Umstellung der Währungen in Verbindung gebracht werden könnte. Vielmehr ist er darauf zurückzuführen, dass die Bundesbank wegen der sinkenden Liquiditätspräferenz gezwungen war, zur Verteidigung ihres angekündigten Diskontsatzes die Geldmenge zu verringern und im Ausgleich die Menge verzinslicher Assets im privaten Sektor zu erhöhen, was unter anderem durch Diskont- und Wertpapierpensionsgeschäfte bewerkstelligt wurde. Die solcherart vorgenommene passive Intervention konnte zwar den Zins erfolgreich verteidigen. Sie konnte aber die Kurssenkung nur abschwächen. Trotz der passiven Intervention blieb der Euro schwach und fiel zeitweilig sogar auf unter 85 Cent.

Der Euro ist wieder im Aufwind, weil die Flucht aus dem neuen Geld nach der Umstellung vorbei ist.

Diese Erklärungen für den Verfall des Euro-Kurses wurden von vielen tatsächlichen oder vermeintlichen Sachverständigen zurückgewiesen. Erst wurde der Sachverhalt als solcher bestritten, und als das nicht mehr ging, wurde behauptet, die genannten Bargeldeffekte seien viel zu klein, als dass sie den Kurseinbrach beim Euro erklären könnten.

Diese Behauptungen treffen den Punkt nicht, denn es ist nicht der kurzfristige Umtauschstrom, sondern die längerfristige Bestandsnachfrage nach Währungen, die für die Wechselkursentwicklung relevant ist. Ströme gehen in beide Richtungen und erklären rein gar nichts, auch wenn die Praktiker des Devisenmarktgeschehens es glauben. Glücklicherweise liefert die Ökonometrie eine klare Antwort auf die Frage nach der Größe der beobachteten Effekte. Danach bedeutet eine Mindernachfrage nach Euro-Bargeldbeständen im Umfang von 100 Milliarden Euro einen langfristigen Kurseinbruch um etwa 30 Cent oder mehr. Das ist genug, um den tatsächlichen Kursverfall zu erklären, übrigens auch weit mehr als die zum Zwecke der Devisenmarktintervention bei der Europäischen Zentralbank vorgehaltenen Devisenreserven.

Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass die europäische Zentralbank im Herbst 2001 beschlossen hat, ihre M3-Geldmengendefinition zu ändern, weil in den letzten Jahren immer größere Teile der verzinslichen Komponenten dieses breiten Geldaggregats in die Hände von Ausländern gelangt waren. Nach den Informationen der EZB waren von 1999 bis zum September 2001 Assets im Wert von etwa 100 Milliarden Euro von dieser Korrektur erfasst. Dabei handelt es sich vermutlich um das Pendant der zum Zwecke der Zinsstabilisierung zurückgenommenen Fluchtgelder.

Mittlerweile ist die Flucht vorbei, und die Trends drehen sich um. Seit März ist der Euro wieder im Aufwind, und zeitgleich hat die von der Bundesbank emittierte Bargeldmenge wieder zugenommen. Es ist alles spiegelbildlich so wie im Vorfeld der Umstellung. Der Euro eignet sich hervorragend für schwarze Geschäfte und findet nun auch in Osteuropa, der Türkei und sonst wo auf der Welt neue Freunde.

Natürlich gibt es rivalisierende Erklärungen für die Stärke des Euros. So wurde darauf hingewiesen, dass der sinkende Dollar das schwindende Vertrauen in die US-Wirtschaft reflektiere. Dies ist aber im Lichte der Umfragen zum Vertrauen der Investoren und Konsumenten abwegig. Umfragen belegen, dass das Vertrauen in den Aufschwung in den USA wesentlich robuster als in Europa ist. Auch die These, im schwachen Dollar spiegele sich die Flaute der US-Aktien wider, steht auf schwachen Beinen. Zwar ist der Dow-Jones-Index seit Jahresbeginn gefallen, doch der Dax und der Euro-Stoxx-Index sind viel stärker gefallen. Relativ zu den europäischen sind also die US-Aktien in der fraglichen Zeit gestiegen, und das impliziert einen starken, nicht einen schwachen Dollar.

Nirgendwo ist der Glaube an falsche und völlig haltlose Theorien so verbreitet wie an den Devisenmärkten. Die vordergründige Plausibilität obsiegt stets gegenüber der ökonomischen Analyse. Sie kann häufig Punktsiege davontragen, weil falsche Theorien temporär wahr werden, wenn all ihr Kaufverhalten daran ausrichten. Aber längerfristig siegen die Fundamentals. Die bis zur Euro-Umstellung fallende und danach wieder steigende Geldnachfrage der Osteuropäer und Schwarzgeldhalter gehört zur Gruppe solcher Fundamentals.