Deutschland mit der roten Laterne

Hans-Werner Sinn, Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft und Präsident des Münchener Ifo-Instituts, nennt die Gründe, warum Deutschland beim Wachstum das Schtusslicht in Europa bildet.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
handwerk magazin Juli 2002, S. 31

Die frühere Wachstumslokomotive Deutschland, die ganz Europa mitgezogen hatte, ist inzwischen zum Schlusslicht geworden. Gegenüber dem Durchschnitt der Europäischen Union errechnet sich in den letzten sieben Jahren eine Wachstumseinbuße von gut sechs Prozent. Der Rückstand hat interne und externe Ursachen. Die internen Ursachen sind langfristiger Natur; sie führen schon seit etwa 1970 zu einem bislang noch ungebrochenen Trend beim Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Der Anstieg der Löhne und lohnbezogenen Abgaben ist dabei an erster Stelle zu nennen, denn er hat die Schaffung neuer Arbeitsplätze behindert. Die realen Lohnkosten im verarbeitenden Gewerbe sind in den letzten 20 Jahren in Westdeutschland um über 40 Prozent gestiegen. In Holland, das 1982 mit dem Abkommen von Wassenaar den Weg der Lohnmäßigung einschlug, betrug der Anstieg nur etwas mehr als 20 Prozent, und in den USA lag er bei etwa 8 Prozent. Die Folge war, dass die Zahl der Beschäftigtenstunden in den USA um gut 40 Prozent und in Holland um 20 Prozent anstieg, während sie in Westdeutschland um etwa 5 Prozent zurückging. Die gut belegte Faustregel, dass ein Prozent Lohnzurückhaltung langfristig mindestens ein Prozent mehr Beschäftigung schafft, hat sich auch beim Vergleich dieser Länder bewahrheitet.

Die Ausweitung des Sozialstaates hat zu dem Anstieg der Lohnkosten maßgeblich beigetragen. Davon kann auch jeder Handwerksbetrieb ein Lied singen. Durch den Ausbau der Lohnersatzleistungen wurden einerseits die Anspruchslöhne erhöht, andererseits wurde die auf dem Faktor Arbeit lastende Abgabenlast gesteigert. Für den Arbeitnehmer führt die Grenzabgabenlast der Wertschöpfung von über 65 Prozent dazu, dass die Nichtbeschäftigung immer lukrativer und die Beschäftigung immer unattraktiver wird. Und für den Arbeitgeber rechnet sich bei den hohen Löhnen und Lohnzusatzkosten eine Neueinstellung nicht mehr. Kein Wunder, dass immer weniger Menschen beschäftigt sind und dass das Wachstum lahmt.

Auch die deutsche Vereinigung erklärt einen Teil der Wachstumsschwäche. Während das Inlandsprodukt je Erwerbsfähigem in den neuen Bundesländern derzeit bei nur 58 Prozent der alten Bundesrepublik liegt, haben die Lohnkosten ein Niveau von deutlich über siebzig Prozent erreicht. Die Kräfte, die eine Angleichung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität hätten herbeiführen können, wurden von Anfang an geschwächt. Das geringe Wachstum im Osten überträgt sich rein rechnerisch in das geringe Niveau des gesamtdeutschen Wachstums. Darüber hinaus vermindert es die westdeutsche Dynamik, weil sie eine Fortführung der immensen öffentlichen Transfers in die neuen Länder erzwingt, die auch künftige Investitionen in Deutschland belastet und sie vermindert.

Euro raubt unseren Wettbewerbsvorteil

Zu diesen internen Gründen gesellen sich als externe Ursachen der Wachstumsschwäche die Verschärfung des internationalen Wettbewerbs und die europäische Integration hinzu.

So hat insbesondere der Euro über die Schaffung eines gemeinsamen Kapitalmarktes zu einer geradezu dramatischen Zinskonvergenz in Europa geführt. Diese Zinskonvergenz hat die deutsche Industrie ihres Wettbewerbsvorteils in Form niedrigerer Langfristzinsen beraubt und in anderen Ländern zu einer Stärkung der Wachstumskräfte beigetragen.

Die Reformen sollten zunächst beim Sozialstaat ansetzen, um die von ihm auf den Arbeitsmarkt ausgehenden Rückwirkungen in Form hoher Anspruchslöhne zu verringern. Dies lässt sich ohne Sozialabbau bewerkstelligen, wenn man gering Qualifizierten Lohnergänzungsleistungen statt Lohnersatzleistungen zahlt. Diese Maßnahme beseitigt die Lohnuntergrenze, die derzeit von der Sozialhilfe gebildet wird. Davon kann auch der Mittelstand profitieren. Bei niedrigeren Löhnen werden zusätzliche Jobs rentabel, die sonst nie zur Verfügung gestellt worden wären.

Flächentarifverträge nur noch als Lohnleitlinien

Außerdem muss das Tarif- und Arbeitsrecht grundlegend reformiert werden. Flächentarifverträge sollten in Zukunft nur noch den Charakter von Lohnleitlinien haben, die ein Betrieb unterschreiten kann, wenn die Mehrheit der Belegschaft dies möchte. Der Kündigungsschutz sollte gelockert werden, um Neueinstellungen zu ermöglichen, die durch die derzeitigen Regeln verhindert werden. Kündigungsschutz sichert die Arbeitsplätze nur kurzfristig; langfristig verursachter Arbeitslosigkeit und macht die Arbeitsplätze unsicher.

Zudem ist das Ausbildungswesen zu- stärken, um so wenigstens langfristig die Basis für einen neuen Innovationsschub zu legen. Dieser allseits akzeptierte und relativ bequeme Weg kann aber nur eine begleitende Rolle spielen. An den harten Reformen, die oben beschrieben wurden, führt kein Weg vorbei, wenn Deutschlands Wirtschaft beim Wachstum von seiner Rolle als Schlusslicht Europas befreit werden soll.