Arbeit für alle

Der westeuropäische Sozialstaat ist nur zu retten, wenn er Beschäftigung bezuschußt, statt weiterhin Nichtstun zu bezahlen
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Die Welt, 01.03.2006, S. 9

Die Marktwirtschaft ist effizient, aber nicht gerecht. Da sich die Löhne nach dem Gesetz der Knappheit bilden, können manche Menschen nicht genug verdienen, um davon auskömmlich zu leben. In Westeuropa hilft der Sozialstaat. Auf dem Wege des Lohnersatzes, also durch Sozialhilfe, Arbeitslosengeld oder Frührente, garantiert er ein sozio-kulturelles Existenzminimum. Wenn einem der Markt kein ausreichendes Einkommen für die eigene Arbeit bieten kann, dann kann man ein solches Einkommen auch ohne Arbeit vom Staat bekommen.

Diese Politik mag gut gemeint sein, doch sie ist in hohem Maße für die Massenarbeitslosigkeit verantwortlich. Der Grund dafür ist simpel. Lohnersatzzahlungen sind Löhne fürs Nichtstun, die einen Mindestlohnanspruch gegen die Marktwirtschaft aufbauen, den private Arbeitgeber immer seltener befriedigen können.

Arbeitgeber sind keine Altruisten. Sie stellen einen Arbeiter nur ein, wenn der Überschuß der von ihm erwirtschafteten Erträge über seine Lohnkosten nicht kleiner ist als der entsprechende Überschuß, den ein ausländischer Arbeiter oder ein Roboter erzeugen könnte. Und die Leute sind nicht dumm. Sie arbeiten nur, wenn sie dabei mehr als nur den Lohnersatz verdienen. Daher sind Arbeiter, die nicht produktiv genug sind, um einen Lohn über den Lohnersatzzahlungen zu rechtfertigen, von Arbeitslosigkeit bedroht.

Dieses Problem ist in Westeuropa zwar altbekannt, wurde aber durch den Fall des Eisernen Vorhangs noch drastisch verschärft. Hierdurch und durch die Öffnung Chinas wurden plötzlich 28 Prozent der gesamten Menschheit in das westliche Marktsystem gebracht. Die Integration der asiatischen Tigerstaaten in den siebziger und achtziger Jahren war schon schwierig genug. Daß nun die exkommunistischen Länder noch hinzukommen, stellt die größte Herausforderung in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts dar. Während durch die Integration dieser Ökonomien für die meisten der involvierten Länder Handelsgewinne erwartet werden können, ergeben sich für den Westen aufgrund der immer heftiger werdenden Niedriglohnkonkurrenz enorme Probleme. Finanzkapital und Direktinvestitionen fließen in Billiglohnländer. Die westlichen Ökonomien werden gezwungen, sich auf eine hochspezialisierte, kapitalintensive Produktion zu spezialisieren, in der weniger Arbeitsplätze geschaffen werden. Gering qualifizierte Arbeitskräfte wandern in den Westen. Das Überschußangebot an gering qualifizierten Arbeitskräften wird durch diese Entwicklungen im Westen immer größer, was den Gleichgewichtslohn für einfache Arbeit sinken läßt. Bis das neue Gleichgewicht erreicht wird, werden zwar Jahrzehnte vergehen; die meisten Leser dieses Artikels werden das nicht mehr erleben. Der Prozeß wird jedoch anhaltend und beständig sein. Wären die westlichen Arbeitsmärkte flexibel und würden sie dem zunehmenden Druck nachgeben, könnte die Beschäftigung gering qualifizierter Arbeitskräfte bei fallenden Löhnen erhalten werden. Aber angesichts der Tatsache, daß die Löhne aufgrund der Lohnkonkurrenz des Sozialstaates starr sind, ist ein Anstieg der Massenarbeitslosigkeit die wahrscheinlichste Folge der Globalisierung.

Westliche Politiker reagieren auf den Niedriglohndruck, indem sie das Lohnsystem noch starrer machen. In Deutschland beispielsweise plant man, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, wie es ihn in anderen Ländern schon länger gibt. Aber derartige Maßnahmen verschlimmern die Situation nur noch. Die Spezialisierung auf kapitalintensive, arbeitssparende Sektoren wird verstärkt, noch mehr Kapital fließt aus dem Land, und noch mehr Menschen wandern aus dem Ausland zu und verdrängen die Einheimischen in den Sessel, den der Sozialstaat für sie bereithält. Die Massenarbeitslosigkeit sinkt nicht, sondern steigt.

Der auf Lohnersatz und Mindestlöhnen beruhende europäische Sozialstaat wird die Globalisierung nicht überleben. Es wird möglicherweise noch weitere zehn oder zwanzig Jahre dauern, bis die Politiker das verstehen, aber am Ende werden sie es verstehen müssen. Man kann den Gang der Geschichte nicht aufhalten. Die eigentliche Frage ist, ob der europäische Sozialstaat als Ganzes sterben muß.

Ein neues sozialstaatliches System, das trotz Faktorpreisausgleich sowohl die sozialen Werte Europas bewahrt als auch Massenarbeitslosigkeit verhindert, beruht auf Lohnzuschüssen statt auf Lohnersatzleistungen. Jeder sollte arbeiten, zu welchem Lohn es auch immer eine Stelle für ihn gibt, und der Staat zahlt zu diesem Lohn im Bedarfsfalle ein zweites staatliches Einkommen hinzu, so daß ein sozial akzeptabler Lebensstandard gewährleistet ist. Wenn der Staat Menschen bezahlt, wenn sie arbeiten, statt nur dann, wenn sie nicht arbeiten - wie das heute der Fall ist -, implizieren Sozialleistungen auch keinen Mindestlohn. Die Arbeitseinkommen passen sich ungehindert an und schaffen so ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Bei niedrigeren Löhnen werden mehr Jobs geschaffen, weil es für die Arbeitgeber profitabler wird, einen größeren Teil der Blaupausen in ihren Schubladen und der Ideen in ihren Köpfen zu realisieren. Armut wird vermieden, weil unqualifizierte Arbeitskräfte zwei Einkommen haben: eines, das sie selbst verdienen, und eines, das ihnen der Staat bezahlt.

Ein solches System ist zwar nicht billig, aber das ist das momentane System auch nicht. Heute bekommen Millionen Menschen 100 Prozent ihrer Bezüge ohne Arbeit vom Staat. Im neuen System bezahlt der Staat möglicherweise noch mehr Menschen, aber er muß sie nur noch teilweise bezahlen. Statt eines vollen Einkommens erhalten sie ja nur Zuschüsse zum Lohn.

Welches System billiger kommt, ist eine Frage der Algebra und der Ökonometrie. Nach einer realistischen Schätzung des Ifo-Instituts ist ein auf Lohnzuschüssen basierendes System für Deutschland billiger. Auf jeden Fall führt der Wechsel vom Lohnersatz zum Lohnzuschuß nicht nur zu mehr Beschäftigung und einem höheren Sozialprodukt, sondern stellt vor allem sicher, daß weniger Menschen der Würde beraubt werden, die nur ein verantwortungsvolles Arbeitsleben bieten kann.

Der Autor ist Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München