Am Rande der Stagnation

Interview mit Hans-Werner Sinn, Wertpapier, 30.08.2001, S. 8

Die Europäische Zentralbank hat Luft für weitere Zinssenkungen, meint Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in München im Gespräch mit WERTPAPIER.

WERTPAPIER: Herr Sinn, was muss die Bundesregierung tun, damit die Wirtschaft anspringt? Die bisherigen Steuersenkungen haben bislang wenig gebracht.

SINN: Die Steuerreform hat einen Einkommenseffekt, der positiv ist: Die Haushaltseinkommen steigen. Sie hat zudem möglicherweise einen positiven Effekt auf die Investitionen, der allerdings sehr stark dadurch gedämpft wird, dass die Kapitalkosten steigen. Der große Vorteil der Steuerreform liegt vor allem darin, dass unrentable Investitionen ausgemerzt werden und weniger darin, dass die Investitionen anziehen.

Was halten Sie davon, Teile der Steuerreform vorzuziehen, damit Unternehmen und Bürger mehr Geld für Investitionen und Konsum haben?

Das wäre wirksam. Aber man muss über die Gegenfinanzierung in diesem Zusammenhang nachdenken. Wir schätzen die Nettoneuverschuldung für 2001 bereits auf 2 Prozent. Damit bewegt sich Deutschland schon knapp unter der Maastricht-Grenze von 3 Prozent. Die Reform krankt daran, dass Haushaltseinkommen immer noch zu stark besteuert werden. Zwei Drittel der Wertschöpfung einer zusätzlichen Stunde Arbeit müssen an den Staat abgeführt werden. Das ist zu viel. Da liegt das Problem.

Führt der strikte Sparkurs des Finanzministers nicht dazu, dass die Konjunktur noch weiter gedrosselt wird?

Der Finanzminister wird die Staatsausgaben nicht deshalb kürzen, weil weniger Einnahmen da sind. Das automatische Defizit durch die konjunkturelle Abschwächung sollte er hinnehmen.

Wie geht es weiter mit der Konjunktur? Nach der letzten Prognose Ihres Instituts wird die Wirtschaft in diesem Jahr nur um 1,2 Prozent real wachsen. Können Sie eine Rezession ausschließen?

Wir befinden uns am Rande einer Stagnation. Eine Rezession im Sinne einer Verminderung des Sozialprodukts schließe ich aber aus.

Sehen Sie für die Zukunft wieder Gefahren an der Inflationsfront?

Nein, das sind größtenteils einmalige Effekte, insbesondere wegen des schwachen Euros und des hohen Ölpreises. Das wird sich nicht noch einmal wiederholen.

Gefahren drohen aber bei den Löhnen. Die Gewerkschaften fordern eine schärfere Gangart bei den nächsten Tarifverhandlungen. Sie wollen mit Lohnerhöhungen die Kaufkraft erhöhen.

Die Löhne sind ein Kostenfaktor. Deshalb sind kräftige Lohnerhöhungen auch schädlich für die Arbeitsplätze. Natürlich bedeuten höhere Löhne Nachfrage, weil daraus der Konsum finanziert wird. Aber die Investitionen der Unternehmen sind Nachfrage. Lohnerhöhungen gehen zu Lasten der Gewinne, es stehen also weniger Mittel für Investitionen zur Verfügung.

Sitzt die EZB mit ihrer Geldpolitik in der Klemme?

Sie steckt in der Klemme, unter anderem weil die Konjunktur in anderen Euro-Ländern gut läuft. Andererseits stottert der Motor in Deutschland, dem größten europäischen Land. Wenn hier die Konjunktur kränkelt, dann sollte die EZB dies schon ernster nehmen als es dem deutschen Stimmengewicht im europäischen Zentralbankrat entspricht.

Also müssen die Zinsen weiter gesenkt werden?

Für Deutschland wäre es in jedem Fall gut, wenn die EZB-Zinsen noch um ein halbes Prozent gesenkt würden. Das wäre auch vertretbar. Probleme mit der Preisstabilität sehe ich nicht.

Wird der Kanzler sein Wort halten können, bis 2002 die Zahl der Arbeitslosen unter3,5 Millionen zu drücken?

Ich glaube nicht. Die saisonale Arbeitslosigkeit im Herbst könnte zwar kurzfristig auf diesen Wert heruntergehen. Der jahresdurchschnittliche Wert wird um 200 000 höher liegen.

Das Gespräch führte Dieter W. Heumann