Wer reformiert, wird gewählt

Die Zeit, 02.08.2001, S. 17

Zeitbombe Arbeitsmarkt: Kurzfristig ist nichts mehr zu retten

DIE ZEIT: Professor Sinn, über die Branchengrenzen hinweg kündigen Unternehmen an, massenhaft Arbeitsplätze zu streichen. Müssen die Deutschen jetzt um ihre Jobs fürchten?

Hans-Werner Sinn: Wenn man die Wirkung der Jahreszeit herausrechnet, nimmt die Zahl der Arbeitslosen zu. Wir verzeichnen in der Tat eine Wende zum Schlechteren.

Warum?

Die Weltkonjunktur ist eingebrochen. Wir beim ifo-Institut schätzen, dass die deutsche Wirtschaft dieses Jahr nur um gut ein Prozent wächst. Dieser Einbruch schlägt auf den Arbeitsmarkt durch. Dazu kommen die langfristigen strukturellen Gründe: Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist starr, die Reallöhne sind in den vergangenen 20 Jahren rasch gestiegen - daran konnten auch die moderaten Lohnrunden der vergangenen fünf Jahre wenig ändern. Und der Sozialstaat ist so konstruiert, dass Jobs verhindert werden.

Allen voran entlassen derzeit die High-Tech-Konzerne. Wird diese Kündigungswelle andauern?

In jedem Boom wird eingestellt, in jeder Rezession entlassen. Das ist jetzt auch so. Die wichtige Frage ist, ob wir ganz unabhängig vom konjunkturellen Auf und Ab einen längerfristigen Trend am Arbeitsmarkt haben. Im Boom des vergangenen Jahres sah es fast so aus. Das Wachstum war mit drei Prozent sehr hoch, und es schien, als wäre der zwanzigjährige Anstieg der deutschen Arbeitslosigkeit in sein Gegenteil umgekehrt. Doch der jetzige Einbruch stellt das wieder infrage. Kurzfristig zeigt der Trend auf mehr Arbeitslose.

Was heißt das in Zahlen?

Rund 3,8 Millionen Arbeitslose. Dieses Jahr im Durchschnitt einige mehr, im kommenden Jahr vielleicht einige weniger.

Das wäre schlecht für den Bundeskanzler. Immerhin hat Gerhard Schröder den Wählern versprochen, die Zahl der Arbeitslosen bis zur Wahl im Herbst 2002 unter 3,5 Millionen zu senken.

Wenn der Jahresdurchschnitt gemeint ist, wird es nicht klappen. Wenn die saisonbereinigte Zahl für den Herbst gemeint ist, wird es ebenfalls nicht hinhauen. Ist aber die punktuelle Zahl im September nächsten Jahres gemeint, könnte es Schröder gerade noch schaffen. Im September sind die Zahlen normalerweise besonders niedrig.

Entscheidend dafür wird die Wirtschaftsentwicklung im kommenden Jahr sein. Ihr ifo-Institut erwartet ein Wachstum von 2,2 Prozent. Was macht Sie so optimistisch?

Natürlich ist die Unsicherheit für 2002 sehr groß. Das Geschäftsklima ist bis jetzt Monat für Monat schlechter geworden. Doch ein anderer Indikator ist erstmals wieder positiv: In der globalen ESI-Befragung des ifo-Instituts schätzten 800 Experten zwar die aktuelle Lage der Weltwirtschaft im zweiten Quartal dieses Jahres als negativ ein, doch haben sich die Erwartungen gegenüber der Befragung vor einem Vierteljahr leicht verbessert. Auch in den USA könnte der Tiefpunkt der Rezession dank Leitzinssenkungen und Steuerreform bald überwunden sein.

Wann wird diese Entwicklung den deutschen Arbeitsmarkt entlasten?

In der zweiten Hälfte 2002.

Nicht nur die High-Tech-Branche spart Jobs ein. Das Handwerk tritt kürzer, die Post, die Bahn. Wo sind zusätzliche Arbeitsplätze drin?

Die Exportindustrie und die Vorleistungen produzierenden Firmen werden am schnellsten von einer aufflammenden Weltkonjunktur profitieren.

Das heißt, Konzerne wie Siemens bauen jetzt ab - und müssen kommendes Jahr schon wieder Leute suchen?

Wenn sich die Konjunktur stabilisiert, wird man wieder zulegen ...

Also entstehen die jetzigen Abbaupläne aus einer gewissen Hysterie heraus.

Hysterie ist das falsche Wort. Die Konjunkturentwicklung folgt ähnlichen Gesetzen wie der Stau auf der Autobahn. Bei hohem Verkehrsaufkommen verlangsamt sich das Tempo mitunter bis hin zum Stillstand, dann geht es wieder schneller, und keiner weiß warum. Bei der Konjunktur auch: Wenn der Vordermann auf die Bremse tritt, bremst die nachgelagerte Industrie erst recht ab. Die dahinter noch stärker, und so weiter. So einen Stau erleben wir zurzeit.

Wenn Arbeitnehmer von all den Entlassungen lesen, fürchten viele auch um den eigenen Job. Dann kommt es zum Angstsparen ...

In der Tat könnten viele Erwerbstätige dazu neigen, weniger Geld auszugeben. Dem stehen aber positive Wirkungen auf den Konsum entgegen. Die Ölrechnung sinkt derzeit, auch wenn die Opec versucht, das Angebot zu drosseln. Die schwache Weltkonjunktur sorgt dafür, dass der Ölpreis vermutlich nicht auf das hohe Niveau von Ende 2000 zurückklettert. Auch der Preisauftrieb beim Fleisch wird sich nicht wiederholen. Die Preise steigen also insgesamt langsamer, und damit haben die Menschen mehr in der Tasche.

Inflation ist kein Thema mehr?

Risiken gibt es schon. Vor allem könnte der Wechselkurs des Euro anziehen und die deutsche Wettbewerbsposition verschlechtern. Diese Gefahr ist für 2002 überaus konkret.

Der Euro sollte doch Stabilität bringen ...

Was die Preise betrifft, tut er das ja auch. Leider hat der Euro für Deutschland einen gravierenden Nachteil: Früher konnten sich in Europa nur die deutschen Firmen zu niedrigen Zinsen finanzieren, die anderen mussten erhebliche Risikoprämien im Zins mitbezahlen, weil die Währung ihres Landes gegenüber der Mark stets zu fallen drohte. Jetzt können sich Firmen aus Italien oder Spanien genauso billig Geld beschaffen, wie es die deutschen Firmen schon immer konnten. Der Wettbewerbsvorteil, den die Mark der deutschen Industrie brachte, ist verschwunden. Die Kapitalinvestitionen verlagern sich in die europäische Peripherie. Die Folge ist ein Wachstumsschub für Europa, doch ein niedrigeres Wachstum und eine Belastung des Arbeitsmarktes bei uns.

Risiko Nummer zwei für die Beschäftigung sind die Lohnrunden im kommenden Jahr. Die könnten Ihre Prognose zunichte machen.

Da bin ich optimistisch. Die jetzige Konjunkturschwäche und der Rückgang des Preisanstiegs lassen keinen aggressiven Lohnanstieg erwarten.

Sowohl ver.di als auch die IG Metall müssen sich neu profilieren.

Das ist schon richtig. Profil lässt sich aber auch anders gewinnen - etwa durch neue Lohnmodelle, die zwischen aktuellen und neuen Beschäftigten unterscheiden oder den Mitarbeiter am Ergebnis beteiligen. Die Gewerkschaften können ihrer Klientel mehr Einkommen verschaffen, ohne dass dies zu mehr Arbeitslosigkeit führt. Die jetzige Politik kostet demgegenüber viele Arbeitsplätze. Gleiche Gehälter für Insider und Outsider, für Qualifizierte und Nichtqualifizierte, für starke und schwache Firmen in einer Branche - das alles ist ein schrecklicher Einheitsbrei. Mit mehr Differenzierung könnten die Gewerkschaften ihre Verteilungsziele insgesamt leichter erreichen.

Die Führung der IG Metall sieht das anders. Die Gewerkschaft hat es nicht nur im Fall VW abgelehnt, Arbeitslose unter Tarif zu beschäftigen.

Das zeigt, dass man den Geist der Zeit nicht verstanden hat. Durch Lohnzurückhaltung können Arbeitsplätze entstehen, da ist es nicht sinnvoll, einheitliche Tarife ohne Zugeständnisse anzupeilen. Irgendwann müssen auch die Gewerkschafter einsehen, dass es eine Frage der Löhne ist, wie viel Arbeitsplätze in Deutschland entstehen. Die Löhne sind der wichtigste Kostenfaktor.

Keine Zukunft für den Flächentarifvertrag?

Er hat sicher eine nützliche Funktion. Nur wird er viel zu eng definiert. Warum fasst man den Flächentarif nicht als eine Art Lohnleitlinie auf? Wenn in einem Betrieb dann Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam der Auffassung sind, man müsse niedrigere Löhne zahlen, um den Betrieb zu erhalten, sollte der Vertrag das nicht verbieten. Das gilt auch für die Arbeitszeit.

Wie kann es der Kanzler denn noch schaffen, die Zahl der Arbeitslosen bis zur Wahl unter die Grenze von 3,5 Millionen zu senken?

Die Konjunktur kann eine deutsche Regierung kaum beeinflussen, sie ist ziemlich unabhängig vom Tagesgeschäft. Als Schröder gewählt wurde, war es nicht Schröders Aufschwung, und was wir jetzt haben, ist auch nicht Schröders Abschwung.

Bernhard Jagoda, der Chef der Bundesanstalt für Arbeit, fordert ABM-Maßnahmen ...

In den neuen Bundesländern hat man sehr viele, sehr teure ABM-Maßnahmen eingesetzt. Trotzdem ist die Beschäftigung seit 1994 um 14 Prozent zurückgegangen. Das ist der falsche Weg.

 ... und Opposition und Teile der Industrie drängen darauf, die Steuerreform vorzuziehen.

Das ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, doch ist er viel zu klein, um nennenswerte Effekte am Arbeitsmarkt hervorzubringen.

Das heißt, man muss die gesamte Steuerreform noch einmal überarbeiten?

Beim Faktor Arbeit ja. In Deutschland muss ein durchschnittlicher Arbeitnehmer zwei Drittel jeder Mark, die er mit seiner Hände Arbeit zusätzlich erwirtschaftet, an den Staat abführen, entweder direkt über seine Steuern und Abgaben oder indirekt über die Abgaben des Unternehmens, die direkt an das erwirtschaftete Ergebnis geknüpft sind. Das ist der höchste Wert im internationalen Vergleich. Selbst Länder wie Schweden oder Holland kassieren nicht so viel ab, wie wir es tun. Es ist doch klar, dass so etwas zu Schwarzarbeit und Krankfeiern führt.

Wie sieht eine Steuerreform à la Sinn aus?

Ich würde die Unternehmenssteuern lassen, doch bei den persönlichen Einkommen einen Stufentarif mit nur drei Stufen von 20, 30 und 40 Prozent einführen. Die Stufen würden bei 14 000, 35 000 und 70 000 Mark beginnen. Davon würde auch der durchschnittliche Arbeitnehmer profitieren. Die Gegenfinanzierung könnte über eine lineare Kürzung bei den Subventionen und einen Verzicht auf Steigerungen im Sozialetat erbracht werden.

Aus Sicht der Regierung hat Ihr Konzept einen Haken: Selbst wenn Rot-Grün die Steuerreform überarbeitet, hätte das bis zur Wahl 2002 wohl keine Effekte am Arbeitsmarkt. Was kann Gerhard Schröder jetzt noch tun?

Er kann die Arbeitslosenzahlen kurzfristig nicht verändern, es gibt keine sinnvollen Möglichkeiten, vom bloßen Verstecken der Arbeitslosen einmal abgesehen.

So verliert die SPD die Bundestagswahl.

Nicht wenn die Regierung jetzt mit einer grundlegenden Reform des Arbeitsmarktes beginnt, die für die kommenden Jahre eine Belebung verspricht. Die Menschen haben vom Klein-Klein die Nase voll. Sie wollen eine wirkliche Wende. Eine ruhige Hand ist okay, doch Ruhe darf nicht mit Schlaffheit verwechselt werden. Was wir brauchen, ist eine Politik der starken Hand, die langfristig die Weichen richtig stellt. Statt in Aktionismus zu verfallen, sollte sich Schröder von seinem Punktziel 3,5 Millionen verabschieden und ein Programm entwickeln, mit dem Deutschland zukunftsfähig wird. Wir haben gravierende demografische Probleme, die langfristig alles umstürzen können. Darauf muss man die Menschen vorbereiten. Und man muss rechtzeitig gegenhalten.

Politiker sind eher kurzfristige Stimmenmaximierer als langfristig denkende Reformer.

Beides muss sich nicht ausschließen. Wer als Reformer auftritt, wird auch gewählt. Blair hat die Wahl in Großbritannien gewonnen, Koizumi die Wahl in Japan. Die Frage ist nur, ob der Leidensdruck der Deutschen schon hoch genug ist. Und ich denke, er ist es. Wir sehen zum Beispiel in den neuen Bundesländern, dass sich Ärger anstaut. Wer jetzt ein wirkliches Alternativprogramm vorlegt, könnte eine Menge Wähler begeistern.

Angenommen, der flexible Arbeitsmarkt wäre längst Realität. Würden wir weniger Entlassungswellen sehen oder gar mehr?

Weniger! Dann würde in schwierigen Zeiten das Lohnniveau variieren und nicht die Beschäftigung.

Das Gespräch führten Marc Brost und Uwe Jean Heuser.