Wirtschaftsexperte: Reform seit 30 Jahren überfällig

Interview mit Hans-Werner Sinn, Express, 19.05.2003, S. 2

EXPRESS-Interview mit dem Chef des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Professor Hans-Werner Sinn.

EXPRESS: Reformen wurden und werden in Deutschland gerne auf die lange Bank geschoben. Wo muss jetzt am dringendsten etwas passieren?

Sinn: Wir reden über Reformen, die praktisch seit 30 Jahren überfällig sind. Der Reformstau ist ins Unerträgliche gewachsen. Wichtigster Reformkandidat ist die Rentenversicherung. Hier ist die Riester-Rente nur ein erster Schritt. Was wir brauchen, ist eine private Pflichtversicherung in größerem Umfang, damit die Rentenbeiträge unserer Kinder zurückgefahren werden können.

Wie können die explodierenden Kosten im Gesundheitswesen gebremst werden?

Das gesamte System muss effizienter werden, indem in höherem Umfang Selbstbehalte und Zuzahlungen eingeführt werden, damit eine gewisse Selbstkontrolle über die Nachfrage stattfindet. Wenn alles bezahlt wird, ist die Nachfrage grenzenlos. Aus dem Katalog der gesetzlichen Krankenkassen sollten bestimmte Leistungen schrittweise herausgenommen und bei Bedarf von der Privatwirtschaft angeboten werden. Dann können die Leute entscheiden, wieviel zusätzlichen Versicherungsschutz sie sich leisten wollen.

Wie kann die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpft werden?

Das Hauptproblem ist: Der Sozialstaat erzeugt die Arbeitslosigkeit selbst, weil er eine Fülle von Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosengeld bereitstellt. Die Lohnansprüche, die dadurch gegen die Privatwirtschaft entstehen, sind zu hoch, als dass es sich für Unternehmen lohnen würde, mehr Jobs zu schaffen. Besser wäre ein System, bei dem derjenige, der arbeitet, mehr Geld vom Staat bekommt, als derjenige, der nicht arbeitet. An die Stelle von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe sollten mehr Lohnzuschüsse im Niedriglohnsektor treten. Dann würden die Löhne fallen, und mehr Jobs würden geschaffen.

Sollte der Kündigungsschutz wegfallen?

Der Kündigungsschutz ist die schärfste Waffe der Gewerkschaften im Tarif-Poker. Sobald er eingeschränkt wird, werden sie bei ihren Lohnforderungen behutsamer sein, was neue Jobs schaffen wird. Sinnvoll wäre es, den Kündigungsschutz bei Neueinstellungen einzuschränken und eine befristete Anstellung zu erleichtern.

Sollten für Konjunkturprogramme zusätzliche Schulden gemacht werden?

Nein. Zum einen gestattet es der EU-Pakt nicht. Zum anderen ist die Arbeitslosigkeit hierzulande höchstens zu 15% ein Konjunkturproblem, aber zu 85% ein strukturelles Problem.

Interview: Michael Fuchs