"Europa tut zu wenig für Innovationen"

Interview mit Hans-Werner Sinn und Joseph Stiglitz, Financial Times Deutschland, 29.01.2004, S. 38

Die Top-Ökonomen Hans-Werner Sinn und Joseph Stiglitz im FTD-Streitgespräch über die wirklich wichtigen Reformen

FTD: Herr Sinn, Herr Stiglitz, Sie beide haben jüngst fast zeitgleich viel beachtete Bücher zur Wirtschaftspolitik veröffentlicht. Liefern Sie auch Rezepte für die Steigerung des Wirtschaftswachstum in Deutschland?

Sinn: Hier zu Lande ist der Arbeitsmarkt das Problem. Er wird heftig verzerrt durch Flächentarifverträge, vor allem aber durch die Sozialhilfe.

FTD: Was heißt das konkret?

Sinn: Deutschland ist unter den Industrieländern das Land mit der höchsten Arbeitslosigkeit unter Geringqualifizierten. Grund dafür ist die hohe Sozialhilfe. Für Menschen ohne besondere Qualifikation lohnt es sich oft nicht zu arbeiten.

FTD: Können Sie ein Beispiel nennen?

Sinn: Eine vierköpfige Familie erhält 1500 € Sozialhilfe - dreimal so viel wie der Durchschnittslohn in Polen. Die unteren Löhne werden dadurch in Deutschland nach oben gedrückt. Zudem hat Deutschland hinter Norwegen die weltweit zweithöchsten Lohnkosten pro Arbeitsstunde unter Industriearbeitern.

FTD: Das ist doch gar nicht so schlecht. Die Deutschen sind doch auch produktiver.

Sinn: Ohne Globalisierung wäre das vielleicht kein Problem. Die Globalisierung aber hat in den vergangenen Jahren eine Menge Niedriglohn-Konkurrenz gebracht. Jetzt bekommen wir durch die EU-Osterweiterung verstärkte Konkurrenz etwa durch Firmen in Polen, wo die Arbeitskosten in der Industrie bei einem Sechstel der deutschen liegen. Osteuropa konkurriert mit uns um die gleichen Investitionen. Unsere alten Lohnstrukturen, die aus besseren Zeiten stammen,--passen da einfach nicht mehr.

Stiglitz: Ich sehe das etwas anders. Ich glaube, dass man sich hier in Europa zu stark auf Strukturreformen konzentriert, die eigentlich nur ein Euphemismus für Arbeitsmarktreformen sind. Das Problem einer unzureichenden gesamtwirtschaftlichen Nachfrage - gerade hier in Deutschland - wird dagegen vernachlässigt...

FTD: ...vielleicht weil wir in diesem Land wichtigere Probleme lösen müssen. Etwa die enorme Arbeitslosigkeit.

Stiglitz: Die Debatte um die Arbeitslosigkeit erinnert mich an die Diskussionen, die wir 2001 in den USA hatten. Damals stellte sich die Bush-Regierung gegen eine Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung. Sie argumentierte, eine höhere Unterstützung werde die Menschen davon abhalten, sich einen neuen Job zu suchen. Aber es gab keine Stellen. Die Tatsache, dass mehr Menschen eine Arbeit suchten, führte zu einem größeren Angebot an Arbeitskräften, nicht zu mehr Jobs.

FTD: Und wie stellt sich die derzeitige Situation in Europa dar?

Stiglitz: Es fehlt schlicht an Investitionen, und der reale Konsum wächst kaum - in Deutschland war er sogar in den vergangenen beiden Jahren rückläufig. Ökonomische Standardmodelle sagen uns, dass bei fehlender Nachfrage auch die Wirtschaft nicht mehr wächst. Und aus Erfahrung wissen wir, dass der Staat in solchen Situationen mit Steuersenkungen oder höheren Ausgaben die Nachfrage ebenso ankurbeln kann wie die Zentralbank mit Zinssenkungen. Solange die Kapazitäten nicht voll ausgelastet sind, können wir damit das Wachstum erhöhen. Erst wenn die Kapazitäten voll genutzt sind, werden Arbeitsmarktfragen wie jene, die Hans-Werner Sinn anspricht, wichtig.

Sinn: Lieber Joseph, keiner bezweifelt, dass wir das Wirtschaftswachstum erhöhen können, indem wir die Kapazitäten besser auslasten. Aber selbst mit der besten Nachfragepolitik können wir die Arbeitslosigkeit vielleicht um wenige Prozentpunkte senken. über die letzten Jahrzehnte ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland kontinuierlich gestiegen. Das hat offensichtlich nichts mit fehlender Nachfrage zu tun.

Stiglitz: Aber auch die Arbeitsmarktreformen können das Wachstumsproblem nicht lösen. Wenn wir Menschen zurück in den Arbeitsmarkt schicken, erhöht das einmalig das Wachstum in dem Moment, in dem die Arbeitslosen einen Job aufnehmen. Wir erhöhen damit aber nicht den langfristigen Wachstumstrend.

Sinn: Bei einer Arbeitslosigkeit von de facto 15 Prozent in Deutschland kann dieser Effekt doch beträchtlich sein.

Stiglitz: Nehmen wir an, wir senken die Arbeitslosigkeit über zehn Jahre um jeweils einen Prozentpunkt pro Jahr. Nehmen wir auch an, dass die Arbeitslosen etwa schlechter ausgebildet und weniger produktiv sind als die bisher Beschäftigten. Dann bringt das Ganze nicht einmal einen Prozentpunkt jährliches Wirtschaftswachstum...

Sinn: ...aber das ist doch schon beeindruckend!

Stiglitz: Gewiss. Im Vergleich zur Stagnation der vergangenen Jahre ist das gut, aber den Abstand zur US-Wirtschaft wird das kaum verringern. Die amerikanische Wirtschaft weist derzeit ein Trendwachstum von vier bis fünf Prozent auf. Vielleicht ein Prozentpunkt davon geht auf steigende Beschäftigung zurück der Rest auf wachsende Produktivität. Um das aufzuholen, muss Deutschland nun sein Produktivitätswachstum erhöhen.

Sinn: Ein Problem Deutschlands ist es, dass wir künstlich zu hohes Produktivitätswachstum gehabt haben: Durch zu hohe Lohnabschlüsse waren die Firmen gezwungen, zu rationalisieren und Beschäftigte zu entlassen. Beim technischen Fortschritt sind wir im europäischen Vergleich sehr gut. Natürlich könnten wir auch hier Dinge verbessern.

FTD: Woran hapert es denn aus Ihrer Sicht?

Sinn: Zum Beispiel fehlen uns leistungsfähige Märkte für Wagniskapital. Firmen fehlt oft die Möglichkeit, organisch zu wachsen. Als junger Unternehmer in Deutschland ist das Beste, was einem passieren kann, dass man von einer großen Firma aufgekauft wird. Es ist kaum möglich, von einer kleinen Firma zu einer wirklich bedeutenden Firma zu werden.

Stiglitz: Der Kein des Problems liegt ganz woanders. Ich glaube, dass Europa zu wenig Nachdruck auf Innovationen legt. Vor allem fällt es den Europäern schwer, Innovationen in ein fertiges Produkt zu verwandeln. Dabei ist auch das Bildungssystem, vor allem bei den Universitäten, ein Problem. Hier sollte Europa ansetzen. Die derzeitige Situation in den USA bietet da den Europäern eine große Chance. Bislang haben die USA von der guten Schulausbildung im Rest der Welt-profitiert und diese Menschen dann an ihre Elite-Unis geholt. Mit der aktuellen politischen Entwicklung in den USA werden die Grenzen nun für Ausländer zunehmend schwerer zu überqueren. Europa müsste diese Chance nutzen, um sich dem Wettbewerb um die besten Talente zu stellen.

Sinn: All diese Dinge sind wichtig, aber selbst wenn wir das Bildungssystem vollkommen umbauen, dauert es 20 Jahre, bis wir die ersten Absolventen daraus bekommen. Was machen wir in der Zwischenzeit? Bis dahin sind wir mit zu hohen Stundenlöhnen im Verhältnis zu unserer Produktivität geschlagen. Firmen können sich nicht leisten, in Deutschland zu produzieren und verlagern immer größere Teile ihrer Produktion ins Ausland, etwa nach Tschechien. In Deutschland findet dann nur noch die Endmontage statt, damit die Produkte wenigstens noch die Bezeichnung "made in Germany" tragen können.

Stiglitz: Aber Hans-Werner, grundsätzlich ist ein solches internationales Outsourcing doch eine positive Entwicklung. Es steigert die Produktivität: Firmen können das Gleiche mit niedrigeren Kosten produzieren. Allerdings muss eine gute makroökonomische Politik dafür sorgen, dass bei dem Prozess genug neue Stellen in anderen Sektoren geschaffen werden, während die Beschäftigung bei jenen Firmen, die ihre Produktion nach Osteuropa auslagern, sinkt.

Sinn: Das sehe ich anders. Warum brauchen wir dafür makroökonomische Politik? Ich glaube, dass der Markt das selbst regeln kann, zumindest wenn die Arbeitsmärkte flexibel sind.

FTD: Herr Sinn, Sie reden von zu hohen deutschen Arbeitskosten. Die jüngste Euro-Aufwertung macht deutsche Arbeit im internationalen Vergleich noch einmal teurer. Was sollten die Europäer tun?

Sinn: Schätzungen für einen angemessenen Wechselkurs, zu dem gleiche Waren in den USA und Europa gleich teuer wären, liegen zwischen 0,94 und 1,07$ pro Euro. Der Euro ist also derzeit wohl überbewertet. Wir wissen zugleich, dass Devisenmärkte oft nicht besonders gut funktionieren. Die Europäische Zentralbank sollte deshalb am Devisenmarkt intervenieren. Eine Zinssenkung durch die EZB halte ich dagegen für falsch. Wir erleben derzeit einen kräftigen Aufschwung, den eine Zinssenkung nur noch unnötig anfachen wurde.

FTD: Herr Stiglitz, was sind in Ihren Augen derzeit die ,größten Risiken für den sich abzeichnenden Aufschwung?

Stiglitz: Die US-Wirtschaft birgt eine Reihe von Risiken: Die Privathaushalte etwa sind stark verschuldet. Sobald die Hypothekenzinsen steigen, könnte der Konsum einbrechen. Das amerikanische Handelsdefizit schwächt zudem den Dollar. Das trifft wiederum die Exporteure in Europa hart. Damit erhöht sich die Gefahr von Handelskriegen.

Sinn: Ich stimme Joseph Stiglitz zu. Die US-Ungleichgewichte sehe ich auch als Risiko. Was passiert etwa, wenn. nach den Wahlen die US-Regierung ihr Budget konsolidiert? Wir hatten durch die US-Steuersenkungen und Ausgabenerhöhungen in den letzten Jahren das größte keynesianische Konjunkturpaket aller Zeiten. Wenn das ins Gegenteil verkehrt wird, wird das klar negative Folgen haben.

FTD: Wo sehen Sie Risiken für eine Erholung in Deutschland?

Sinn: Mit dem kräftigen Aufschwung, den wir gerade bekommen, wird die Reformdebatte erlahmen. Es wird keine neuen Reformen geben, und wenn in drei Jahren der nächste Abschwung kommt, wird der noch tiefer als der letzte.

Das Interview führten die FTD-Redakteure Sebastian Dullien, Harald Ehren, Mark Schieritz und Christian Schütte.

Kritik am Staat

Hans-Werner Sinn ist Präsident des Münchner Ifo-Instituts. Sein aktuelles Buch Ist Deutschland noch zu retten? (Econ) schlägt ein Reformprogramm für Deutschland vor. Sinns These: Ausufernder Sozialstaat und übertriebene Lohnabschlüsse haben die Löhne in Deutschland so weit in die Höhe getrieben, dass das Land kaum noch wettbewerbsfähig ist. Um den zu begegnen, fordert Sinn einen radikalen Umbau des Sozialstaates und längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich.

Kritik am Markt

Joseph Stiglitz ist Nobelpreisträger für Ökonomie und Professor an der renommierten Columbia University in New York. Unter US-Präsident Bill Clinton leitete er zeitweise dessen ökonomisches Beratergremium, später war er Chefvolkswirt der Weltbank. In seinem aktuellen Werk Die Roaring Nineties (Siedler) kritisiert er die amerikanische Wirtschaftspolitik in den 90er Jahren, weil diese den Staat zu weit zurückgedrängt und den Markt zu stark dereguliert habe.

Der Artikel bezieht sich auf das Buch:

Hans-Werner Sinn: Ist Deutschland noch zu retten?, Econ Verlag: München 2003, 496 S. (8 gebundene Auflagen; 1. bis 4. Taschenbuchausgabe Ullstein: Berlin seit 2005, ein Hörbuch bei Radioropa, 2005; eine koreanische Auflage bei Kachi Publishing, 2007).