40-Stunden-Woche - Ende der Idylle

Presseecho, Focus Money, 29.07.2004, S. 68-71

Immer kürzere Arbeitszeiten haben Deutschlands Jobkrise nicht gelöst. Ökonomen sind sicher: Wir müssen länger arbeiten.

Samstags gehört Vati mir" - damit könnte es schon bald vorbei sein. Seit die IG Metall in den sechziger Jahren mit diesem Slogan die 5-Tage-Woche forderte, haben sich Lage und Stimmung nicht nur in der Metallindustrie radikal geändert. Auch der fröhliche Sonnen-Aufkleber, der in den achtziger Jahren auf allen Gewerkschafter-Autos für die 35-Stunden-Woche warb, wirkt inzwischen wie ein Relikt der Sozial-romantiker. Siemens, Continental, MAN: Unternehmen fordern ihren Beschäftigten immer häufiger längere Arbeitszeiten ab.

Verbandsfunktionäre wie Michael Rogowski, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), plädieren offen für Arbeitszeiten von 40 oder 42 Stunden. Ökonomen wie der Chef des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, fordern gar Wochenarbeitszeiten von bis zu 44 Stunden, um der Jobkrise im Land Herr zu werden. Und Bayerns Ministerpräsident Stoiber tritt nicht nur für die flächendeckende 40-Stunden-Woche ein, sondern lässt seine Landesbeamten gleich 42 Wochenstunden arbeiten.

Dabei ist es nicht schnödes Profitdenken, das Unternehmen wie Wissenschaftler nach Mehrarbeit rufen lässt. Die Vertreter der bisherigen Lehre - kürzere Arbeitszeiten bei vollem Lohnausgleich führen zu mehr Beschäftigung - geraten zusehends in die Defensive. Angesichts billiger Produktionsstandorte in Europas Osten setzt sich die Erkenntnis durch: Längere Arbeitszeiten bei gleich bleibenden Löhnen machen Jobs sicherer. Mittelfristig, da sind Experten überzeugt, kann Mehrarbeit sogar neue Arbeitsplätze schaffen.

Schlaraffenland. Als Helmut Kohl einst von Deutschland als "kollektivem Freizeitpark" sprach, sorgte er noch für erregte Diskussionen. Heute ginge der Satz wohl als treffende Analyse durch. Im internationalen Vergleich hat Deutschland mit die niedrigsten tariflichen Arbeitszeiten. Dass die tatsächlich geleisteten Wochenstunden höher sind, ändert aus Sicht der Unternehmen wenig. "Die hohen tatsächlichen Arbeitszeiten kommen durch Überstunden zu Stande. Bei Überstundenzuschlägen von bis zu 150 Prozent bedeutet das für die Unternehmen eine enorme Kostenbelastung", erläutert Holger Schäfer, Arbeitsmarktexperte beim Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Berlin. Spitze sind die Deutschen auch beim Urlaub: Kein anderer Industriestaat garantiert seinen Arbeitnehmern durchschnittlich 29 Tage bezahlte Freizeit pro Jahr, Sonn- und Feiertage nicht mitgerechnet.

Spitzenwerte. Vorn liegt die Bundesrepublik allerdings auch bei der Arbeitslosenstatistik. Die soeben veröffentlichten Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit OECD belegen: Kurze Arbeitszeiten führen jedenfalls nicht zu mehr Jobs. So lag die Arbeitslosenquote in Deutschland 2003 bei 9,3 Prozent, in den USA bei 6,0 Prozent. Durchschnittliche Tarifarbeitszeit in den Vereinigten Staaten: rund 40 Stunden pro Woche. In Österreich gelten tarifliche Arbeitszeiten von 38,4 Stunden, die durchschnittliche Arbeitslosenquote liegt bei 4,4 Prozent, und in Portugal, wo im Schnitt 39,3 Stunden zugepackt wird, sind nur 6,4 Prozent ohne Job.

Da wirkt die kämpferische Rhetorik von Gewerkschafts-Hardlinern wie IG-Metall-Chef Jürgen Peters hohl. Vor Ort, in den Unternehmen, laufen seine flammenden Appelle für die 35-Stunden-Woche ohnehin ins Leere: Immer öfter schließen seine Genossen als Betriebsräte Vereinbarungen, in denen sie Mehrarbeit ohne Lohnausgleich akzeptieren. Dabei können sie sich der Zustimmung der Mehrheit der Beschäftigten sicher sein. Bis zu 80 Prozent aller Arbeitnehmer, so belegen Umfragen, würden freiwillig für das gleiche Geld länger arbeiten, wenn ihr Arbeitsplatz dadurch erhalten bliebe.

Kostenbremse. Dass Jobs tatsächlich sicherer würden, ist für Arbeitsmarktexperte Holger Schäfer klar: "Letztlich geht es um die Kosten der Produktionsfaktoren Arbeit und Maschinen. Je billiger der Faktor Arbeit ist, desto weniger Maschinen würden eingesetzt und desto mehr Menschen eingestellt." Auf diese Weise, so der IW-Ökonom, sinke der auf den Unternehmen lastende Rationalisierungsdruck. Niedrigere Arbeitskosten lassen sich, so Schäfer, über sinkende Löhne oder längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich erreichen. Wobei der IW-Experte den zweiten Weg favorisiert: "Bei unbezahlter Mehrarbeit sinken die Stunden-, aber nicht die absoluten Löhne. So behält jeder Arbeitnehmer genauso viel netto wie vorher, und die Nachfrage würde nicht sinken."

Anpassung. Zusätzliche Beschäftigungseffekte erwartet Schäfer von der höheren internationalen Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen: "Wer billiger produzieren kann, kann mit den preiswerten ausländischen Anbietern leichter mithalten." Ähnlich argumentiert auch der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW).

40 Stunden als neue tarifliche Regelarbeitszeit will allerdings auch im Arbeitgeberlager kaum jemand. Zu groß seien die Unterschiede zwischen den einzelnen Betrieben, so BDI-Präsident Rogowski im FOCUS-MONEY-Interview (Ausgabe 30/04). So fordern die Unternehmen flexible Lösungen, die Betriebsrat und Chef in den Firmen direkt aushandeln. Dieser Weg führt zwar zu einem drastischen Machtverlust der Gewerkschaften, ist aber schon jetzt durch erste Öffnungsklauseln in den Manteltarifverträgen vorgezeichnet.

Flexible Vereinbarungen können dann bei guter Auftragslage des Unternehmens für bestimmte Zeiträume auch deutlich mehr als 40 Wochenstunden vorsehen. Auch das arbeitsfreie Wochenende wäre dann kein Tabu mehr. Dann würde Vati samstags zwar nicht mehr allein der Familie gehören. Wenn Vatis Job dadurch sicher wäre, hätte die aber vermutlich nichts dagegen.

Dienstleister ackern mehr

Die Beschäftigten in den privaten Dienstleistungsbranchen (ohne Staat) stellen seit geraumer Zeit die Mehrzahl der Beschäftigten in Deutschland. In vielen Betrieben (42 Prozent) arbeiten die Beschäftigten noch immer betrieblich vereinbart genau 40 Stunden. Vor allem in Ostdeutschland ist dies der Fall. Die reine 35-Stunden-Woche betrifft nur 2,5 Prozent der Beschäftigten. Die meisten Dienstleistungsbetriebe (43,7 Prozent) arbeiten derzeit zwischen 35 und 38,5 Stunden.

Volkswirtschaft - Pauschale oder differenzierte Lösungen

Einer der profiliertesten wissenschaftlichen Vertreter für eine Arbeitszeit-verlängerung ist Hans-Werner Sinn vom Münchner Ifo-Institut. Er verlangt zunächst eine allgemeine Ausweitung der Arbeitszeit auf 42 Stunden in Deutschland. Um Kostennachteile gegenüber den Niederlanden abzubauen, wären sogar 44 Stunden erforderlich, so Sinn. Dann würden mehr Güter und Dienstleistungen produziert und so der Wohlstand aller gemehrt.

Einen Anstieg der Arbeitslosigkeit befürchtet Sinn nicht, weil die gleichzeitige Mehrproduktion zu mehr Nachfrage bei den Lieferanten führe und so auch dort zu mehr Absatz - und Arbeitsnachfrage. Erforderlich sei deshalb, in der gesamten Wirtschaft die Arbeitszeiten zu verlängern, nicht bloß bei einzelnen Firmen.

Sinn erhofft sich davon, dass die Verlagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer gestoppt werden könnte. Außerdem gebe es dann einen großen Produktivitätsschub für die beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital. Dies sichere die Basis für weitere Investitionen und führe zu zusätzlichen Arbeitsplätzen.

Den Einwand, dass die Arbeitnehmer in Deutschland hochproduktiv sind, lässt Sinn nicht gelten. In die Rechnung für das Land einbezogen werden müssten auch die Arbeitslosen, die eine Produktivität von null hätten. Dann sehe Deutschland nicht mehr sehr gut aus.

Auch die Arbeitgeber wollen längere Arbeitszeiten. Ihr Präsident Dieter Hundt sagt allerdings: "Ich plädiere nicht für eine generelle Verlängerung der Arbeitszeit." Der Chef des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, Martin Kannegießer, assistiert: "Pauschale Verkürzung greift ebenso kurz wie pauschale Verlängerung."

Für beide lautet das Zauberwort Flexibilisierung. Damit werden aus den weitgehend fixen Lohnkosten der Unternehmen variablere Kosten. Die teuren Anlagen, die Fixkosten verursachen, müssen ständig ausgelastet sein. Der Lohnkostenanteil in der Metall verarbeitenden Industrie sank von 1980 bis heute von 28,3 Prozent am Umsatz auf 19,2 Prozent.

Gustav Horn, Konjunkturchef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, verweist auf ein Problem: Nur bei guter Lage bedeute Mehrarbeit auch Mehrabsatz und damit ein größeres Bruttoinlandsprodukt. Andere Forscher betonen, dass die tatsächlichen Arbeitszeiten in Deutschland seit einigen Jahren stiegen (siehe Grafik links). Eine Umfrage des Instituts zur Erforschung sozialer Chancen wird Gewerkschafter freuen: Demnach beträgt die tatsächliche Arbeitszeit in Westdeutschland bereits 42 Stunden, im Osten 43 Stunden.

Flächentarif - Wie flexibel ist eine Fläche?

Arbeitnehmer und Arbeitgeber schließen Verträge ab, mit denen die Job-Bedingungen geregelt werden. Neuerdings kann davon abgewichen werden.

Die meisten Deutschen arbeiten zu Bedingungen, die in einem Flächentarifvertrag festgelegt wurden. In Westdeutschland sind dies rund 60 Prozent aller Beschäftigten, im Osten deutlich weniger. Auch manche Firmentarife betreffen sehr viele Menschen, so der von VW, der rund 100000 Beschäftigte in Niedersachen und Hessen angeht. Er liegt deutlich über dem Metalltarif im Rest Niedersachsens.

In einem Flächentarif legen Arbeitgeber und Gewerkschaft die Mindestbedingungen fest, nach denen in einer Branche in einem Tarifgebiet gearbeitet wird. Bessere Bedingungen kann der Arbeitgeber immer gewähren, was auch an vielen Stellen der Fall war. In den letzten Jahren wurden allerdings übertarifliche Leistungen verrechnet mit Verbesserungen im Flächentarif.

Die Tarifgebiete entsprechen manchmal den Bundesländern, aber nicht immer. In der Metall- und Elektrobranche zum Beispiel gibt es ein Tarifgebiet Unterweser, das nur 34000 Beschäftigte in der Gegend um Oldenburg betrifft. Berlin dagegen ist noch immer zweigeteilt in Westberlin sowie Ostberlin mit Brandenburg.

Die Monatslöhne in den einzelnen Tarifgebieten sind durchaus unterschiedlich. So verdient ein Metall-Meister der Gruppe M1 als Anfangsgehalt in Hamburg 2024 Euro, in Nordrhein-Westfalen 2290 und in Nordwürttemberg/Nordbaden 2320 Euro. Generell werden in der Gegend um Stuttgart die besten Löhne gezahlt. Das liegt an gut verdienenden Unternehmen wie Daimler, Porsche und vielen Mittelständlern.

Die Arbeitgeber haben in den vergangenen Jahren die Flächentarife angegriffen, weil sie ihnen als zu starr erschienen. Es müsse mehr Flexibilität nach unten geben, vor allem für Firmen in Not. Die Gewerkschaften argumentieren, dass dies im Einzelfall immer möglich sei. Sie wollen allerdings Verhandlungen darüber nicht den Firmen-Betriebsräten überlassen. Offizielle Begründung: Die seien erpressbar.

Mit dem neuen Tarifvertrag 2004 hat die IG Metall erstmals zugestimmt, dass im Gegensatz zu früher nicht mehr nur in Krisen vom Flächentarif nach unten abgewichen werden darf, sondern auch zur Sicherung von Investitionen, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt lobte diese Klausel gegenüber FOCUS-MONEY als "bemerkenswert". Sie war ebenfalls Grundlage für die jüngsten Verhandlungen bei Daimler. Allerdings reicht es auch hier nicht, dass der Betriebsrat mitmacht. Die Gewerkschaft muss ebenfalls zustimmen.

Atmende Arbeitszeit nach Branchen

Innerhalb der Tarifverträge sind in den letzten Jahren manche Flexibilisierungsmöglichkeiten für die Arbeitszeit geschaffen worden. Insbesondere werden bei Mehrarbeit immer weniger Zuschläge gezahlt. Sie wird stattdessen über Freizeit in auftragsschwachen Zeiten abgegolten, wenn die Konjunktur nachlässt. Die Verrechnung erfolgt oft über ein Arbeitszeitkonto. Umgekehrt ist es manchmal möglich, bei Nachfrageschwäche befristet die Arbeitszeit und die Löhne zu kürzen.