Basar-Fieber

Presseecho Rezension, Frankfurter Rundschau, 29.10.2005

Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse bekräftigte Hans-Werner Sinn seine bedrohliche Lagebeschreibung der deutschen Wirtschaft, die er als Basar-Ökonomie karikiert: Die deutsche Industrie biete zwar eine Produktpalette an, die ihresgleichen sucht. Aber die Spitzenstellung im Export übertünche die fortdauernde Wachstumsschwäche, Massenarbeitslosigkeit und Weigerung der Unternehmen, im Inland zu investieren. Der deutsche Exportboom sei krankhaft.

Seit Mitte der 90er Jahre nämlich sinke die Fertigungstiefe des verarbeitenden Gewerbes drastisch. Die Unternehmen verlagern die arbeitsintensiven Teile ihrer Produktionsketten in die Niedriglohnländer und verlegen sich auf die kundennahen Endstufen der Produktion.
Der "Basar-Effekt" bestehe darin, dass der inländische Wertschöpfungsanteil an der Industrieproduktion sinkt. Deren internationale Wettbewerbsfähigkeit sinke nicht. Deutschland sei die Handelsdrehscheibe der Welt.

Aber im Inland gehen Arbeitsplätze verloren, die ins Ausland verlagert werden. Die starren Löhne verhindern erstens, dass die entlassenen Arbeitskräfte anderswo neue Stellen finden, und sie treiben zweitens die Unternehmen dazu an, in Deutschland mit noch mehr Kapital und weniger Arbeit zu produzieren. Verlierer des Basar-Effekts seien die deutschen Arbeiter.

Was ist von Sinns Diagnose zu halten? Sie enthält glasklare Passagen: Der verfestigte positive Außenbeitrag ist kein automatischer Beleg für einen Handelsgewinn aus der internationalen Arbeitsteilung. Steht er für einen Nettokapitalabfluss, könnte das Kapital der inländischen Verwendung und der Schaffung von Arbeitsplätzen entzogen worden sein.

Es stimmt: Das deutsche Exportfieber erzeugt Fehlsteuerungen. Zuerst sollten die Güter bestimmt werden, die importiert werden müssen, erst dann wäre zu fragen, mit welchen Exportgütern sie bezahlt werden können.

Aber Sinns Untersuchung enthält auch blinde Flecken: Welchen Erklärungswert hat etwa das idealtypische Konstrukt der zwei Länder, zwei Güter, zwei Faktoren für die komplexen Handelsbeziehungen Deutschlands mit der Welt? Zwei Drittel des deutschen Außenhandels werden mit reifen Industrieländern getätigt.
Noch höher ist der Konzentrationsgrad ausländischer Direktinvestitionen. Der Wettbewerb kreist um Güter innerhalb gleicher Sektoren. Auf welchem Niveau solider Lohnausgleich zwischen den Niedrig- und den Hochlohnländern stattfinden?

Während des deutschen Wirtschaftswunders ist das Lohnniveau bei den Siegermächten nicht gesunken. Ist empirisch belegt, dass die überdurchschnittliche Kapitalintensität der deutschen Wirtschaft durch überhöhte Lohnforderungen verursacht ist?

Die real existierenden Produktionsfunktionen gestatten keinen beliebigen Austausch von Arbeit gegen Technik oder umgekehrt. Eine industriefixierte Diagnose verstellt den Blick auf neue Arbeitsfelder im Inland, wo für personennahe Dienste in den Sektoren Gesundheit, Bildung und Kultur hohe Humankompetenzen gefragt sind.
Sinns fiebrige Attacken gegen überzogene Lohnforderungen, die Übermacht der Gewerkschaften und den Sozialstaat als Erstursachen der Wachstumsschwäche und Massenarbeitslosigkeit wirken nicht überzeugend.