Deutschland ist die Insel der Seligen

Interview mit Hans-Werner Sinn, Die Welt, 18.05.2009, Nr. 114, S. 3

Hans-Werner Sinn ist einer der profiliertesten deutschen Ökonomen. Ein Gespräch über die Zukunft der Wirtschaft, Gier als Triebfeder des Menschen und Amerikaner im Rauschzustand

Hans-Werner Sinn wirft den Banken vor in den letzten Jahren hemmungslos gezockt zu haben. Möglich sei dieser „Kapitalismus“ aber nur deshalb gewesen, weil der Staat seine Aufsichtspflicht nicht erfüllt habe. Obwohl die hiesige Wirtschaft derzeit stark schrumpft, sieht der Chef des Münchner Ifo-Instituts die Deutschen in dieser Krise „auf einer Insel der Seligkeit“. Das alte Wachstumsmodell habe aber ausgedient. Mit dem Ökonomen sprach Dorothea Siems.

WELT ONLINE: Herr Professor Sinn, Sie machen für die Wirtschaftskrise einen „Kasino-Kapitalismus“ verantwortlich, so der Titel Ihres neuen Buches. Sind Sie zu den Systemkritikern übergewechselt?

Hans-Werner Sinn: Ich bin nicht übergewechselt, sondern war immer ein Kritiker des mangelhaften Bankenregulierungssystems. Ich habe dazu einiges geschrieben – allerdings zu einer Zeit, als das keiner hören wollte.

Das Problem ist, dass die Banken mit minimalen Eigenkapitalbeständen ihr Geschäft machen und auf diese Weise die Haftungsbeschränkung einer Kapitalgesellschaft über alle Maßen ausnutzen. Die Eigentümer einer Kapitalgesellschaft haften im Verlustfall nicht mit ihrem gesamten Vermögen, sondern nur mit ihrem Kapitaleinsatz. Diese 1601 in Holland erfundene Rechtsform hat den Erfolg des Kapitalismus überhaupt erst möglich gemacht.

WELT ONLINE: Warum ging es jetzt bei den Banken schief?

Sinn: Die Haftungsbeschränkung ist von den US-Investmentbanken bis zum Gehtnichtmehr ausgenutzt worden. Sie machten extrem riskante Geschäfte und besaßen lediglich drei, vier Prozent Eigenkapital im Verhältnis zu ihrer Bilanzsumme. Das ist viel zu wenig. Zwar waren sie dadurch in der Lage, Renditen von 25 bis 40 Prozent zu erwirtschaften. Doch der Preis war ein hohes Verlustrisiko, das den Wert des bisschen Eigenkapitals bei Weitem überstieg und somit vor allem Verluste für die Gläubiger und im Zweifel für den Staat bedeutete. Die Erträge dieser Banken in Normalzeiten resultierten zum großen Teil aus einem kasinoähnlichen Spiel, welches Verluste für den Steuerzahler nach sich zog. Auch die deutschen Banken haben bei dem Spiel mitgemacht.

WELT ONLINE: Benötigt die Marktwirtschaft insgesamt striktere Regeln?

Sinn: Wir brauchen nicht überall mehr Regulierung. In bestimmten Bereichen, etwa dem Arbeitsmarkt, ist unser Wirtschaftssystem überreguliert. Löhne und Preise gehören nicht reguliert, weder direkt noch indirekt. Wir brauchen aber strengere Eigenkapitalvorschriften für die Banken. Die neoliberale Denkrichtung, aus der die soziale Marktwirtschaft unter Ludwig Erhard entstanden ist, sagt nicht, dass es ohne den Staat geht. Im Gegenteil unterscheidet sie sich vom Manchesterkapitalismus dadurch, dass sie einen starken Ordnungsrahmen für die private Aktivität setzt. Wenn der Spielraum durch den Staat richtig definiert ist, kann sich der private Eigennutz produktiv entfalten. Denken Sie an die Dänen und die Wikinger. Die Dänen haben noch genauso viel Gier wie ihre Vorfahren, doch sie sind heute anständige Leute, die ihren Eigennutz produktiv einsetzen, weil sie in der Marktwirtschaft agieren, wo man sich Reichtum erarbeitet, anstatt ihn sich zusammenzustehlen.

WELT ONLINE: Vielen gilt die Gier der Manager als Ursache der Krise.

Sinn: Das ist eine oberflächliche Sichtweise. Die Gier ist eine unschöne Eigenschaft des Menschen. Aber sie kann nicht erklären, warum es zur Krise kam, denn sie war schon immer da. Neu war indes, dass die Eigenkapitalregulierung der amerikanischen Investmentbanken im Jahr 2004 aufgehoben wurde und dass die Politik die Banken zwang, Hauskredite an ärmere Bevölkerungsschichten auszugeben. Wenn die Manager jetzt zu Sündenböcken gemacht werden, trägt das zur Lösung der Probleme nicht bei.

WELT ONLINE: Kritiker monieren, die Marktwirtschaft heize die Gier an.

Sinn: Die Marktwirtschaft ist eine Friedensordnung, die die Gier des Menschen begrenzt und kanalisiert, und nicht das Gegenteil. Durch die Marktwirtschaft ist Frieden in die Welt gekommen. Statt Kriege gegeneinander zu führen, um sich gegenseitig zu berauben, versucht man, durch Handel reich zu werden. Es ist dieselbe Gier, die hinter dem Krieg und hinter dem marktwirtschaftlichen Tun steht. Es ist das Fehlen von marktwirtschaftlicher Regelung, die wir jetzt auf den Finanzmärkten beklagen. Dort herrschte Krieg, weil es an Regeln fehlte.

WELT ONLINE: Die Krise hat weltweit zu gigantischen Wertverlusten vor allem an den Börsen und bei Immobilien geführt. Aber wie real sind solche Verluste? Welche Auswirkung hat es, wenn ein Eigenheim einen geringeren Marktwert hat als vor ein paar Jahren?

Sinn: Wenn die Leute ihre Vermögenstitel weiter halten, spielt es zunächst einmal keine Rolle, ob sie an Wert gewinnen oder verlieren. Solche Schwankungen sind imaginär. Die realen Effekte entstehen dann, wenn diese Wertsteigerungen zur Finanzierung eines höheren Konsums genutzt werden. Das ist im großen Umfang bei den amerikanischen Hausbesitzern der Fall gewesen, die sich auf ihre Häuser verschuldet haben. Die US-Sparquote lag in den vergangenen Jahren bei null Prozent. Die Hälfte der Amerikaner hat mehr konsumiert, als sie an Einkommen hatte. Sie haben sich beispielsweise deutsche Autos gekauft, und zurück zu uns kamen Lehman-Brothers-Papiere, die heute wertlos sind.

WELT ONLINE: In den USA haben erst die Privatleute über ihre Verhältnisse gelebt, jetzt verschuldet sich der Staat exzessiv. Ist das sinnvoll?

Sinn: Die Amerikaner haben sehr lange Opium genommen und waren berauscht. Dann versiegte mit der Krise der Opiumfluss, und die Leute hatten einen Kater. Zur Lösung des Problems besorgt der Staat jetzt neues Opium.

WELT ONLINE: Das hört sich nicht gut an.

Sinn: Das stimmt. Trotzdem ist es sinnvoll, dies zu tun, auch wenn es keine Dauerlösung sein kann. Die keynesianische Politik, die jetzt von Washington betrieben wird, also die starke Ausweitung der Staatsverschuldung, entspricht einer Neugabe von Opium. Man kann das Rauschgift nicht plötzlich absetzen, sondern muss ganz allmählich auf Entzug umstellen. Das wird für die Amerikaner ein schmerzhafter Prozess, mit dem sie noch ein, zwei Jahrzehnte zu tun haben werden. Denn sie müssen langsam ihr Konsumniveau reduzieren und anfangen zu sparen, statt auf Kosten anderer Länder zu leben. Als reiches Land können sie nicht dauerhaft Kapital importieren. Die Amerikaner müssen Abschied nehmen vom American Dream, dass sich jeder ein Haus leisten kann und auf einem sehr hohen Wohlstandsniveau lebt.

WELT ONLINE: Deutschland als Exportweltmeister exportiert dagegen Kapital. Müssen wir lernen, mehr zu konsumieren?

Sinn: Nein, wir müssen lernen, mehr zu investieren, denn das tun wir zu wenig. Im Übrigen müssen wir nach der Krise erst mal unsere Staatsschulden bezahlen. Dazu werden wir die Steuern erhöhen oder die Staatsausgaben im Sozialbereich reduzieren müssen. Auf jeden Fall werden die Deutschen den Gürtel enger schnallen müssen, zum Ausgleich dafür, was die Amerikaner sich erlaubt haben.

WELT ONLINE: Wie soll Deutschland dann wieder auf Wachstumskurs kommen?

Sinn: Die alte Strategie, Maschinen gegen Lehman-Brothers-Zertifikate zu verkaufen, hat nicht funktioniert. Wir müssen uns ein neues Geschäftsmodell suchen. Besser wäre es, die Maschinen in Zukunft im Inland aufzustellen.

WELT ONLINE: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Devise ausgegeben, dass Deutschland gestärkt aus der Krise hervorgehen soll. Wie soll das gehen?

Sinn: Der richtige Kern dieser Botschaft ist, dass wir im Gegensatz zu den Briten unsere Realwirtschaft nicht aufgegeben haben. Nach wie vor setzen wir auf die traditionellen Stärken des verarbeitenden Gewerbes. Das britische Modell, über Finanzmärkte das Geschäft zu machen, ist jetzt zerstört worden. Allerdings fallen die Amerikaner in Zukunft als Kunden aus. Die Industrie muss sich neue Kunden in Russland, Asien und vor allem in Deutschland selbst suchen. Das Geschäft wird härter.

WELT ONLINE: Wie sind Deutschlands Wachstumschancen?

Sinn: Deutschland hat strukturelle Probleme. Wir haben die niedrigste Investitionsquote aller westlichen Industrieländer. Wir haben unsere Ersparnisse exportiert und den Amerikanern und anderen den hohen Konsumstandard ermöglicht. Das war ein Fehler. Wir müssen die Ersparnisse für viel mehr Investitionen im Inland verwenden. Ansonsten können wir nicht wachsen.

WELT ONLINE: Wie dramatisch wird sich die Krise hierzulande bemerkbar machen? Was bedeuten sechs Prozent Schrumpfung der Wirtschaft in diesem Jahr für die Bürger?

Sinn: Wachstumszahlen sind für die Menschen abstrakt. Die Folgen sieht man aber am Arbeitsmarkt. Ab Herbst werden wir massive Arbeitsmarktprobleme bekommen. Nächstes Jahr könnte die Arbeitslosigkeit wieder auf ähnliche Werte steigen wie im Jahr 2005.

WELT ONLINE: Soziale Unruhen, wie sie manche jetzt beschwören, gab es aber damals keine.

Sinn: Die werden wir auch jetzt nicht bekommen. Deutschland ist die Insel der Seligen in dieser wirtschaftlichen Krise – dank des Sozialstaats. Der Sozialstaat hat viele Nachteile, aber er ist jetzt ein stabilisierendes Element. Wenn 42 Prozent der erwachsenen Deutschen von Transfereinkommen leben, dann ist das einerseits ein Ärgernis, andererseits sind diese 42 Prozent geschützt vor den Folgen der Krise.

WELT ONLINE: Ökonomen haben den GAU nicht vorhergesehen. Warum soll man jetzt noch auf Wirtschaftswissenschaftler hören?

Sinn: Auch ein Arzt kann den Ausbruch der Krankheit nicht prognostizieren. Aber er kann sie diagnostizieren und therapieren. Außerdem kann er vorher vor ungesundem Lebenswandel warnen. Ich selbst habe die lasche Bankenregulierung immer wieder kritisiert und auf die Gefahren hingewiesen, sowohl in wissenschaftlichen als auch in populärwissenschaftlichen Schriften. Mit vielen anderen Ökonomen habe ich ferner vor dem hohen Leistungsbilanzdefizit der USA gewarnt. Wollen Sie die Ärzte abschaffen, nur weil sie den Beginn der Krankheit nicht vorhersagen können?

Hans-Werner Sinn zählt zu den einflussreichsten Ökonomen Deutschlands. Als die Kanzlerin im April 31 hochrangige Persönlichkeiten zum Krisengipfel lud, stand neben Ministern, Konzernchefs und Bankern auch der Professor auf der Teilnehmerliste. Schließlich zählt Sinn zu den wenigen Ökonomen, deren Rat Angela Merkel sucht. Sinn leitet das Münchner Ifo-Institut und schrieb zahlreiche Bücher. So kritisierte er in „Kaltstart“ Fehler, die bei der Wiedervereinigung gemacht wurden. „Ist Deutschland noch zu retten?“, fragte er später und forderte in dem Bestseller umfassende Reformen. „ Kasino-Kapitalismus “ (Econ Verlag) lautet der Titel seines aktuellen Buchs, in dem er den Ursprung der Krise analysiert und Empfehlungen gibt. Sinn ist ein überzeugter Vertreter der ordoliberalen Schule.