Ist Deutschland noch zu retten?

Presseecho, Rezension, Politische Studien, März/April 2004

Sinn, Hans-Werner: Ist Deutschland noch zu retten? München: Econ, 2003, 499 Seiten, € 25,00.

Dass, wie John Maynard Keynes einmal gemeint hat, von Nationalökonomen zu deren Lebzeiten kaum jemand Notiz nimmt, hängt vermutlich auch damit zusammen, dass Vertreter dieser Zunft die komplizierten Zusammenhänge ihres Faches in mathematischen Modellen untersuchen, die außerhalb der Disziplin kaum rezipiert, geschweige denn verstanden werden. Es sei für einen Fachökonomen schließlich einfach, kompliziert zu schreiben, jedoch stelle es eine echte Herausforderung dar, "einfach zu schreiben und dabei zugleich auf dem festen Boden des Fachwissens zu bleiben", weiß auch Hans-Werner Sinn, Politikberater, Hochschullehrer und Präsident des renommierten ifo-Institutes für Wirtschaftsforschung in München, der eine bemerkenswert lesbare und verständliche Offenlegung der Fehlentscheidungen bzw. -entwicklungen, die er für den Abstieg Deutschlands vom "Wirtschaftswunderland zum kranken Mann Europas" verantwortlich macht, vorgelegt hat.

Sinn nimmt kein Blatt vor den Mund, seine Feder geißelt die Bundesregierung ebenso wie die Gewerkschaften, und auch vor den deutschen Intellektuellen macht seine bisweilen spitze Kritik nicht Halt. Der Blick Letzterer reiche zwar "von Goethe bis Habermas, doch über die harten Gesetze der Ökonomie streift er hinweg, außer Stande, selbst die banalsten wirtschaftlichen Zusammenhänge zur Kenntnis zu nehmen". Das Volk selbst verschließe getreu der Devise, "die Rente kommt vom Staat, und der Strom kommt aus der Steckdose", die Augen vor der Realität.

Sinn nimmt kein Blatt vor den Mund, seine Feder geißelt die Bundesregierung ebenso wie die Gewerkschaften, und auch vor den deutschen Intellektuellen macht seine bisweilen spitze Kritik nicht Halt. Der Blick Letzterer reiche zwar "von Goethe bis Habermas, doch über die harten Gesetze der Ökonomie streift er hinweg, außer Stande, selbst die banalsten wirtschaftlichen Zusammenhänge zur Kenntnis zu nehmen". Das Volk selbst verschließe getreu der Devise, "die Rente kommt vom Staat, und der Strom kommt aus der Steckdose", die Augen vor der Realität.

Und diese Realität ist Sinn zufolge dadurch gekennzeichnet, dass Deutschland in Europa das Schlusslicht beim Wachstum sei, dass Löhne, Renten, Steuern, Sozialhilfe und Arbeitslosigkeit zu hoch, die Kassen leer, die Schulden beängstigend, das Bildungssystem miserabel und die Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik verloren sei. Das Land vergreise, der Arbeitsmarkt befinde sich im "Würgegriff der Gewerkschaften", und während der Sozialstaat einerseits schon nicht mehr finanzierbar sei und die Arbeitslosigkeit letzten Endes sogar vergrößert habe, wirke er andererseits noch wie ein "Zuwanderungsmagnet" auf die Bevölkerungen der am 1. Mai neu zur EU gehörenden Staaten, in denen die Durchschnittslöhne zum Teil erheblich niedriger lägen als die hiesigen Sozialhilfesätze.

Vor dem Hintergrund dieser im Sinne eines Krankenberichtes präsentierten düsteren Diagnose scheint die Möglichkeit einer Heilung des siechen Patienten Deutschland mehr als fraglich zu sein. Doch der Volkswirt Sinn, der sich als "ökonomischer Schulmediziner" vorstellt, hat - wie zu erwarten war - eine Therapie entwickelt und sieht sogar gute Heilungschancen. Allerdings werde die Behandlung kein Vergnügen sein, zumal nicht weniger erforderlich sei als eine "ähnlich radikale Kulturrevolution, wie England sie unter Margaret Thatcher erlebt hat".

Diese "Kulturrevolution" fasst Sinn in einem "6+1-Programm für den Neuanfang" ("+1" bedeutet besondere flankierende Maßnahmen für die neuen Bundesländer) zusammen. Im Einzelnen fordert er eine drastische Beschneidung der Macht der Gewerkschaften; eine Verlängerung der Arbeitszeit von 38 auf 42 Stunden ohne Lohnausgleich; die Abschaffung der starren Flächentarife zu Gunsten der Ausweitung der Tarifautonomie für die Betriebe; unbefristete Verträge statt Kündigungsschutz; eine "aktivierende Sozialhilfe" im Sinne des gleichnamigen, auf Hilfe zur Selbsthilfe abzielenden ifo-Modells an Stelle der konventionellen Lohnersatzzahlungen; eine "Abschaltung des Zuwanderungsmagneten" u.a. durch eine verzögerte Integration von Migranten in das deutsche Sozialsystem; eine "wirklich radikale Steuerreform" sowie die Einführung eines neuen, auf vier Säulen basierenden Rentensystems (gesetzliche Rentenversicherung, Beamtenpensionen, Kinderrente für Eltern, Riester-Rente für Kinderlose).

Hans-Werner Sinns voluminöse, fast 500 Seiten starke Studie gehört zu der Sorte Bücher, die man, obschon oder vielleicht gerade wegen der schonungslosen Offenlegung schmerzhafter Wahrheiten, nicht mehr aus der Hand legen mag, wenn man sie erst einmal aufgeschlagen hat. Man muss weder der Diagnose noch der Therapie in allen Details zustimmen, kommt aber, wenn man an einer Bewältigung der deutschen Krise ernsthaft interessiert ist, an Sinns Überlegungen nicht vorbei - Pflichtlektüre eben!

Reinhard C. Meier-Walser