Wie die Welt in die Krise schlitterte – und wie sie heraus finden kann

Press echo, Tages Anzeiger, 18 Mai 2009

Der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn erklärt, wieso der Kapitalismus zu einem «Kasino» wurde und wie Schäden repariert werden könnten.

Die Finanzkrise ist auch eine Krise der Ökonomen: Kaum einer hat das Unheil kommen sehen. Überhitzte US-Immobilienmärkte? Ja, das sagten viele. Eine auf Pump lebende amerikanische Volkswirtschaft, die nicht ewig so weiterwursteln kann? Ja, auch das haben manche gesehen. Ein Finanzmarktboom, der früher oder später in einen Taucher mündet? Ja, dies war ebenfalls voraussehbar, weil jeder Boom so endet.

Nur: Dass alles so schlimm kommen würde – mit dem tiefsten Finanzmarkttaucher und der grössten Rezession seit 80 Jahren und mit staatlichen Rettungsübungen in bisher ungesehenem Ausmass – das lag weit ausserhalb des Erwartungsrahmens der meisten Experten. Ihr einziger Trost: Die Laien waren auch nicht schlauer.

Immerhin ist die Krise für die Ökonomen auch eine Chance: Politiker, Manager und das breite Publikum haben nun ein besonders offenes Ohr für Erklärungen und Reformvorschläge. Einen gut lesbaren Überblick für das breite Publikum offeriert das soeben veröffentlichte Buch des bekannten deutschen Ökonomen Hans-Werner Sinn, Professor und Chef des Münchner Wirtschaftsinstituts Ifo. Das Buch ist populär geschrieben, doch er hütet sich vor Anbiederung. Deutlich wird dies schon in der Einleitung bei dem auch in den Medien so beliebten Thema der Gier von Konzernchefs und Bankern. «Die Gier beschränkt sich nicht auf Bankvorstände und Manager», betont Sinn: «Auch dem Lottospieler und manchem Kleinanleger steht sie ins Gesicht geschrieben.» Kurz gesagt: Gier ist menschlich. Das ist laut Sinn «bedauerlich, aber kaum zu ändern».

Veränderbar sind dafür die Spielregeln in der Volkswirtschaft. Allzu fundamental müssen laut Sinn die Reformen nicht sein. Denn: «Die Finanzkrise ist keine Krise des Kapitalismus.» Sondern «eine Krise des angelsächsischen Finanzsystems, das zum Kasino-Kapitalismus mutierte und leider auch in Europa immer mehr Nachahmer gefunden hat.»

Bankaktionäre mit besseren Chancen als Roulettespieler

Ein Kernpunkt für Sinn ist der Aufbau übertriebener Fremdkapitalpyramiden bei Banken und anderen Finanzinstituten: Wenn bei Finanzhäusern auf 100 Franken Aktiven 96 bis 98 Franken Schulden kommen, riecht das für Sinn nach Spielkasino – bereits bei einem nur geringen Verlust von 2 bis 4 Prozent ist das ganze Eigenkapital versenkt. Im Gegensatz zu Roulettespielern können Bankaktionäre aber im Schnitt mit Gewinnen rechnen, wie Sinn betont: Die Gewinnchancen nach oben sind unbegrenzt, die Verlustrisiken sind dagegen auf das Aktienkapital beschränkt – denn die Eigentümer haften nicht mit ihrem Privatvermögen. Ein hoher Fremdkapitaleinsatz kann für die Aktionäre damit «rational» sein. Theoretisch gibt es ein Gegengewicht: Je höher die Verschuldung, desto grösser die Risiken für die Gläubiger und desto höher daher die Schuldzinsen. In der Bankbranche funktioniert dieses Korrektiv der Gläubiger aber laut Sinn nicht gut genug. Zur Eindämmung von Übertreibungen brauche es für die Banken massiv strengere Eigenkapitalvorschriften. Auch Spekulationsvehikel wie Hedge-Funds leben von der Haftungsbeschränkung und sollten laut dem Autor Eigenmittelvorschriften nachleben müssen.

Dem «Kasino-Kapitalismus» huldigten nicht nur Banken und Hedge-Funds, sondern auch viele amerikanische Immobilienbesitzer. Auch letztere waren dabei sehr rational. Dies wegen einer skurrilen Regel im Grossteil der USA, wonach Hypothekenschuldner nur mit der betroffenen Haus, aber nicht mit dem weiteren Privatvermögen haften.

Und wie kommt die Welt aus ihrem derzeitigen Schlamassel heraus? Hier in grober Vereinfachung Sinns Antworten: 1. Es wird einige Jahre dauern. 2. Die Rettung grosser Banken musste und muss sein, weil die Folgen von Grosspleiten zu gravierend wären. 3. Die Rettung von Grossfirmen anderer Branchen wie etwa Autokonzernen schadet dagegen mehr, als sie nützt. 4. Staatliche Konjunkturprogramme sind wie ein Drogennachschub für Abhängige: Es kann kurzfristig bei der Überwindung einer Krise helfen, doch früher oder später muss der Entzug kommen.