Die Folgen der wundersamen Geldvermehrung

Von Joachim Starbatty, Junge Freiheit, 17. Dezember 2021, Nr. 51, S. 13.

Hans-Werner Sinns Abrechnung mit der Politik in der Eurozone / Ein Weg aus der Inflation – aber wird er wirklich begangen?

Eine Währungsunion kann auf Dauer nur bestehen, wenn ihre Mitglieder bereit sind, nationale Interessen gemeinsamen Verpflichtungen unterzuordnen. Anderenfalls bricht sie auseinander. Als sich diese Gefahr abzeichnete, ist die Europäische Zentralbank (EZB) auf Geheiß der Politik eingesprungen: Ihre „wundersame Geldvermehrung“ hat die Eurozone überleben lassen – bis jetzt. Wenn sie aber nicht gestoppt werde und die Mitgliedstaaten nicht zu fnanzpolitischer Disziplin zurückkehrten, werde sich Streit und Hader in der EU ausbreiten, warnt Hans-Werner Sinn in seinem neuesten Buch.

Der frühere Präsident des Münchner ifo Instituts erinnert dabei an die „Denkschrift über das Münzwesen“: „Der größte und unerträglichste Irrtum ist es aber, wenn der Landesherr aus der Münzprägung einen Gewinn zu ziehen sucht, indem er nämlich der bisherigen Münze eine neue zur Seite stellt, die im Material oder im Gewicht mangelhaft ist und doch mit der alten gleichgesetzt wird“, schrieb Nikolaus Kopernikus schon 1519. „Wenn es überhandgenommen hat und zu spät entdeckt worden ist, kann es der Herr nicht ohne Mühe und nicht ohne erneute Belastung seiner Untertanen beseitigen und erst recht nicht ohne Unglimpf, da er ja selbst die Ursache dafür gesetzt hat.“

Bei dem modernen Papiergeld kann der Bürger nicht erkennen, ob er voll ausgeprägtes oder minderwertiges Geld in der Hand hat – Papier bleibt Papier. Er unterliegt daher länger der Geldillusion und kann stärker betrogen und ausgebeutet werden.

Die Schaffung des Euro und der Versuch, ihn am Leben zu erhalten, sind der Grund für die wundersame Geldvermehrung. Das Zinsgeschenk im Zuge der Schaffung der Währungsunion – teilweise sanken die nationalen Zinsen von zweistelligen Werten auf das niedrige deutsche Niveau – lösten insbesondere in den Mittelmeerstaaten einen inflationären Boom aus, bis schließlich die Blase platzte. Als Ergebnis blieben der Teuerungsschub und mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit.

Diese Länder konnten ihre Konkurrenzfähigkeit nur zurückgewinnen, wenn sie ihre Inflationsraten senkten (reale Abwertung) oder über temporäre Austritte und Wiedereinführung einer eigenen Währung eine offene Abwertung ermöglichten. Sinn erinnert daran, daß der Weg der offenen Abwertung zweimal begangen werden sollte, doch von Angela Merkel und den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy sowie François Hollande verhindert wurde. Sie präferierten die Einrichtung einer Transferunion und Hilfsmaßnahmen der EZB, die im Kern Transfers sind.

Paris hatte den Weg in die Transferunion seit jeher bevorzugt. Angela Merkel und Olaf Scholz sind ihr gefolgt. Mit der Höhe der Transfers stieg auch das Pathos der Rechtfertigung. Scholz beruft sich auf Alexander Hamilton, einen der Gründerväter der USA, um die eigene Kreditaufnahme der EU zu begründen. So soll die aufgrund der Corona- Pandemie erhöhte Gefahr von Staatskonkursen abgewendet werden. Dies schweiße die EU zusammen. Hamilton hatte als erster US-Finanzminister der USA zunächst die Schulden der 13 Gründungsstaaten zu Bundesschulden gemacht (Residence Act of 1790), weil sie im amerikanischen Freiheitskrieg entstanden seien und daher auch gemeinsam getragen werden müßten – die
Vergemeinschaftung der Schulden als Zement für den neuen amerikanischen Staat.

Danach verließen sich Schuldner und Gläubiger auf den Bund und wirtschafteten entsprechend. Als die daraus resultierende Schuldenblase platzte, rutschte die US-Wirtschaft in eine tiefe Rezession. Neun der 26 im Jahr 1842 existierenden Einzelstaaten gingen in Konkurs. Sinns Resümee lautet: Streit und Unfrieden waren die Folge der Sozialisierung der Staatsschulden. Die USA haben daraus gelernt: Die Regierung in Washington D.C. kommt bedrängten Einzelstaaten nicht mehr zu Hilfe und übernimmt auch nicht deren Schulden.

Die wundersame Geldvermehrung der EZB hat die Risse in der Eurozone übertüncht. Viele hat erstaunt, dass sie keine Inflation hervorgebracht habe. Erinnert sei aber an das Wort von Wilhelm Hankel: „Natürlich gibt es Inflation, man sucht sie bloß an der falschen Stelle.“ Gemeint hat er die steigenden Preise für Vermögenswerte: Immobilien, Aktien und exquisite Gemälde. Inzwischen beginnen aber auch die Preise des privaten Verbrauchs und die industriellen Erzeugerpreise zu reagieren. Bislang hat die EZB noch keinen Grund zur Sorge gesehen, da die Preissteigerungen auf einmalige vorübergehende Effekte zurückzuführen seien. Der EZB werde es schwerfallen, so fürchtet Sinn, die von ihr geschaffene Geldschwemme wieder unter Kontrolle zu bringen. Er hat dafür ein plastisches Bild gewählt: Wie ein Kutscher die Pferde vor seinem Karren nicht am Ausbrechen hindern könne, wenn er die Zügel zu lange habe schleifen lassen, würden auch eventuelle Bremsversuche der EZB bei sich beschleunigender Geldentwertung wenig Wirkung zeigen.

Sinn sieht nur einen Ausweg. Er rät den Politikern zu einem behutsamen, doch mit fester Hand durchgeführten Rückkauf der vielen Staatspapiere, die die Notenbanken des Eurosystems aufgesogen hätten. Wäre Christine Lagarde dazu bereit? Sie ist ja EZB-Präsidentin geworden, um das Gegenteil zu
tun. Und würden nicht die Politiker, wenn es im Gebälk der Währungsunion zu krachen beginne, rufen: „Halt, so war das nicht gemeint?“ Das ist die wahrscheinlichere Variante. Aber das, was Sinn rät, muß getan werden, damit die große Inflation nicht unsere Lebensverhältnisse zerrüttet.

Wir alle haben Sinn zu danken, daß er diese Analyse vorgelegt hat. Dieses Buch muß jeder im Bücherschrank haben, der an der Entwicklung in der Eurozone interessiert ist. Er reflektiert den verhängnisvollen Weg der Eurozone, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, doch immer an den Fakten orientiert und ökonomisch begründet. So ist zugleich eine Dokumentation entstanden, die für uns die detaillierten Fakten zusammenträgt und erläutert. Sinn will aufklären und die komplexe Wirklichkeit erklären. Er sieht sein Werk auch als Bringschuld für die sozialen Leistungen, die ihm in seinem Leben zuteil wurden. Großes Lob wird ihm auch von ehemaligen Politikern gezollt: „Pflichtlektüre für alle politisch Verantwortlichen.“ Richtig. Aber warum haben sie nicht auf Sinn und andere gehört, als sie noch im Amt waren?

Prof. Dr. Joachim Starbatty ist Ökonom und war bis 2019 Abgeordneter des EU-Parlaments