Target-System, Pleitestaaten und Zombies

Prof. Dr. Stefan Homburg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.01.2015, S. 20.

Eine gefährliche Melange

Hans-Werner Sinn hat im Jahr 2011 als Erster die in den Bilanzen der Zentralbanken des Eurosystems schlummernden Target2-Salden ausfindig gemacht. Er hat damit auf ein Problem hingewiesen, das zuvor nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch Fachwissenschaftlern unbekannt war. Während die Bedeutung seiner Thesen zunächst relativiert wurde, auch von der Bundesbank, hat Sinn inzwischen weltweit Anerkennung für seine Entdeckung erhalten. Niemand stellt mehr in Frage, dass die Target2-Salden ein volkswirtschaftliches Haftungsrisiko darstellen; allein für Deutschland stehen derzeit 461 Milliarden Euro im Feuer - ein unvorstellbarer Betrag.

Auch Marcel Fratzscher, der DIW-Chef, bestreitet nicht, dass die Target2-Salden ein Risiko darstellen. Er fügt aber hinzu, dass Verluste "nur" entstehen, wenn Staaten die Eurozone verlassen. Diese Formulierung erscheint eigenwillig, weil die Möglichkeit eines Auseinanderbrechens der Eurozone keineswegs marginal ist. Immerhin hatte die EZB ihre Ankündigung, unbegrenzt Staatsanleihen zu kaufen, mit der akuten Gefahr eines Zusammenbruchs der Eurozone begründet. Und in einem zentralen Punkt stimmen Gegner und Befürworter des Euro doch überein: Entweder gelingt der Aufbau eines europäischen Nationalstaats, in dem die heutigen Mitgliedstaaten die Rolle von Distrikten ohne wesentliche Haushalts- und Steuerautonomie spielen. Oder das Euroexperiment scheitert in gleicher Weise wie alle früheren zwischenstaatlichen Währungsunionen. Mit der Lateinischen Münzunion, der Skandinavischen Münzunion, der Rubelzone und der Kronenzone bietet die Geschichte genug Anschauungsmaterial.

Zur Frage, welche europapolitischen Entwicklungen wahrscheinlich oder wünschenswert sind, gibt es bekanntlich sehr unterschiedliche Ansichten. Diese berühren aber nicht die Substanz der These, dass Target2-Forderungen riskant sind. Es ist absolut ehrenwert und redlich, die Öffentlichkeit auf derartige Gefahren hinzuweisen, statt sie kleinzureden oder zu verschweigen. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der Finanzkrise haben die Bürger ein Recht zu erfahren, dass die Melange aus Target2-Forderungen, überschuldeten Staaten und Zombiebanken ihren Wohlstand gefährdet.

Der zweite Kritikpunkt Fratzschers betrifft Sinns Forderung, die Target2-Salden turnusmäßig auszugleichen, statt sie unbegrenzt wachsen zu lassen. Er bezeichnet diesen Vorschlag als "nicht praktikabel". Diese Einschätzung verwundert, weil das amerikanische Zentralbankensystem, das neben dem Federal Reserve Board zwölf regionale Notenbanken umfasst, seit jeher einen solchen Ausgleichsmechanismus kennt. Warum sollte in Europa nicht praktikabel sein, was in den Vereinigten Staaten praktiziert wird?

Abschließend meint Fratzscher, die Kritik an Target2 habe Ängste "geschürt"; die Sorgen, das System könne Kosten verursachen, hätten sich als unbegründet erwiesen. Dieser Logik ist entschieden zu widersprechen: Zahlungen in ein Kettenbriefsystem oder an bankrotte Schuldner verursachen keine Kosten, solange die Musik noch spielt. Erst im Moment des Zusammenbruchs oder bei Insolvenzeröffnung werden die Verluste sichtbar. Während der letzten fünf Jahre konnte das Ende des Euro nur durch wiederholte und in ihrer Intensität gesteigerte Rechtsbrüche abgewendet werden, was jedoch mitnichten zu einer Gesundung beitrug: Die Staatsschulden steigen in den Peripheriestaaten weiter, die Banken machen weiter wie bisher, und alle verlassen sich darauf, dass der deutsche Steuerzahler am Ende einspringt. Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Hans-Werner Sinns Hinweise auf die Target2-Gefahren waren im besten Sinne aufklärerisch.