USA, Deutschland, Türkei: Die Inflation hat weltweit immer mehr Länder im Griff

Von Karl Doemens, Susanne Ebner, Gerd Höhler, Birgit Holzer und Michael Kerler, Augsburger Allgemeine, 10. Januar 2022.

In Deutschland sind die Preise im Dezember um über fünf Prozent gestiegen. Der frühere ifo-Chef Hans-Werner Sinn befürchtet, dass das Phänomen so schnell nicht vorbei sein könnte.

Hohe Energiepreise, Lieferengpässe bei Chips und Rohstoffen, aber auch bei Produkten wie Fahrrädern zusammen mit der Rücknahme der Mehrwertsteuersenkung hatten 2021 die Inflation in Deutschland angeheizt. Im Dezember erreichte sie satte 5,3 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat, auf das ganze Jahr gesehen stiegen die Preise um 3,1 Prozent. Dies war in Deutschland der größte Preisauftrieb seit 1993. Doch die Bundesrepublik steht mit dem Problem nicht alleine da. Die Inflation ist längst zum internationalen Phänomen geworden.

Großbritannien: Brexit und Energie machen das Leben teuer

Damit hatten selbst Experten nicht gerechnet: Im November kletterte die Teuerungsrate im Vereinigten Königreich auf den höchsten Stand seit mehr als zehn Jahren. Die Verbraucherpreise lagen 5,1 Prozent über dem Niveau des Vorjahres. Zu den Ursachen gehören hohe Energiekosten und gestiegene Rohstoffpreise sowie die Folgen des Brexit.

Die Auswirkungen der Inflation treffen vor allem diejenigen Britinnen und Briten hart, die ohnehin nicht viel verdienen. Denn die Preissteigerungen wirken sich auf Waren und Güter aus, auf die jeder angewiesen ist – Benzin, Lebensmittel und Kleidung. Experten erwarten außerdem, dass der Verbraucherpreis-Index noch weiter steigen könnte – auf bis zu sechs Prozent.

Kein Wunder also, dass die Rufe der Opposition nach finanzieller Entlastung für die Verbraucher lauter werden. So fordert die Labour Partei eine vorübergehende Aussetzung der Mehrwertsteuer auf Gas und Strom. Eine Maßnahme, die Finanzminister Rishi Sunak bislang ablehnt, da man damit auch diejenigen entlaste, die sich die Kosten leisten können. „Wir wissen, dass die Menschen unter Druck stehen“, sagte ein Regierungssprecher unserer Redaktion. Deshalb investiere man rund 4,2 Milliarden Pfund – umgerechnet rund fünf Milliarden Euro –, um zu helfen. Die Unterstützung umfasse eine Energiepreisobergrenze sowie Hilfszahlungen für ein warmes Zuhause in den Wintermonaten.

Verbände bezweifeln jedoch, dass dies ausreicht. Die Wohltätigkeitsorganisation National Energy Action warnte davor, dass angesichts steigender Preise demnächst womöglich bis zu sechs Millionen Haushalte auf der Insel nicht mehr in der Lage sein könnten, ihre Strom- und Gasrechnungen zu bezahlen.

USA: Rekord-Inflation setzt Biden unter Druck

In den USA klettern die Preise im Rekordtempo. Vor allem Benzin, Autos, Fleisch und Mieten haben sich um zweistellige Raten verteuert. Das setzt Joe Biden zunehmend politisch unter Druck. Nun hofft der Präsident auf die einflussreiche Notenbank Fed.

Eigentlich wollte Biden über den Jahreswechsel in seinem Wochenendhaus an der Atlantikküste etwas abspannen. Doch der Kurzurlaub brachte auch eine Begegnung mit der ökonomischen Realität. In der Küche verfolgte der Präsident nach eigener Schilderung ein Gespräch seiner Schwester mit deren Freundin Mary Ann. „Hast Du gemerkt, dass ein Pfund (454 Gramm, d. Red.) Hackfleisch inzwischen mehr als fünf Dollar kostet?“, fragte die Besucherin.

Die Rekord-Inflation ist längst zum politischen Problem für den Präsidenten geworden. Sie betrifft nicht nur das in den USA traditionell sehr günstige Hamburger-Fleisch, das binnen eines Jahres um ein Viertel teurer wurde. Um 6,8 Prozent waren die Preise im November im Jahresvergleich nach oben geschossen. Benzin, Autos, Leihwagen, Hotelübernachtungen, Fleisch und Möbel legten bei den Preisen gar zweistellig zu. Wer derzeit in den USA tanken will, der zahlt im Schnitt 3,30 Dollar für den Gallon – umgerechnet 3,78 Liter. Das klingt für deutsche Ohren paradiesisch, liegt jedoch satte 44 Prozent über dem Vorjahreswert. Zudem ist das Benzin in vielen Bundesstaaten deutlich teurer: In Kalifornien etwa ist der Preis von 3,26 Dollar auf 4,65 Dollar gesprungen. Beim Einkaufen muss man für ein Päckchen Frühstücksspeck im Supermarkt inzwischen 5,99 Dollar zahlen. Der Becher Sahne schlägt mit fünf Dollar zu Buche.

Zudem sind vielerorts die Mieten explodiert: Eine Dreizimmer-Wohnung im vergleichsweise günstigen Austin im Bundesstaat Texas kostet laut dem Immobilienportal Zumper inzwischen 1900 Dollar – plus 27 Prozent. Im teuren San Francisco kletterten die Mieten zwar „nur“ um elf Prozent – dafür aber auf 3880 Dollar für eine Wohnung.

Kein Wunder, dass sich 80 Prozent der Amerikaner bei Umfragen über die Inflation „besorgt“ zeigen. Knapp mehr als die Hälfte ist unzufrieden mit der Art, wie der Präsident das Problem angeht. Tatsächlich hat sich Biden monatelang auf seine Infrastruktur- und Sozialpakete konzentriert und dem Preisauftrieb wenig Beachtung geschenkt. Öffentlich verbreitet er weiter Optimismus: „Das wird sich schneller ändern, als die Leute glauben“, verkündete er Mitte Dezember. Die Republikaner haben das Thema jedoch längst für sich entdeckt und machen die Ausgabenprogramme des Präsidenten für die Misere verantwortlich.

Tatsächlich dürften eher der Personalmangel und die Lieferengpässe durch die Corona-Pandemie als Preistreiber wirken. Biden vermutet zudem Preisabsprachen der Anbieter und hat seine Behörden aufgefordert, mögliche Kartelle in der Ölindustrie und im Oligopol der amerikanischen Fleischverarbeiter zu untersuchen. Die größten Hoffnungen des Präsidenten dürften aber auf der einflussreichen Notenbank Fed ruhen, die eine baldige Abkehr von ihrer ultralockeren Geldpolitik angedeutet hat. Die erwartete Anhebung der Zinsen, die die Nachfrage und damit den Preisauftrieb bremsen dürfte, ist dem Weißen Haus willkommen – freilich nur, solange nicht die Konjunktur abgewürgt wird.

Türkei: Menschen stehen Schlange für bezahlbares Brot

Dass es so schlimm kommen würde, hatten die wenigsten erwartet: 36,08 Prozent erreichte die Jahresinflation im Monat Dezember, wie das staatliche türkische Statistikamt Türkstat bekannt gab. Das war der höchste Wert seit Erdogans erstem Wahlsieg Ende 2002. Im November lag die Teuerungsrate noch bei 21,3 Prozent. Ökonomen hatten für Dezember einen Anstieg auf 27 Prozent erwartet. Die amtlichen Zahlen übertreffen diese Prognose bei weitem. Und sie sind womöglich noch geschönt: Die regierungsunabhängige Forschungsgruppe ENAG, die seit 2020 die Inflation beobachtet, beziffert die Teuerungsrate sogar auf 82,8 Prozent.

Tatsächlich ist die gefühlte Inflation deutlich höher als die offizielle Statistik. Die Preise vieler Grundnahrungsmittel haben sich im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Das Statistikamt beziffert den Anstieg der Lebensmittelpreise auf 43,8 Prozent. Das neue Jahr begann für die Menschen mit weiteren massiven Preiserhöhungen. Die Stromtarife stiegen, je nach Verbrauch, um 50 bis 125 Prozent. Gas wurde 25 bis 50 Prozent teurer. Auch für Autoversicherungen, Treibstoffe und Maut müssen die Menschen tiefer in die Tasche greifen – sofern sie sich überhaupt noch ein Auto leisten können. Vielen reicht das Geld nicht mal für einen Besuch in der Bäckerei. Das zeigen die langen Warteschlangen vor den Kiosken, an denen die Stadtverwaltung von Istanbul subventioniertes Brot verkauft.

Hauptgrund für die galoppierende Inflation ist nach Überzeugung unabhängiger Ökonomen Erdogans Geldpolitik. Auf seine Weisung hat die Zentralbank seit September die Zinsen in mehreren Schritten um fünf Prozent gesenkt. Erdogan glaubt, dass man eine hohe Inflation mit Zinssenkungen bekämpfen kann. Die Negativzinsen ließen die Lira allein seit September um 31 Prozent gegenüber dem Dollar abstürzen. Der Wertverlust verteuert Importe, von denen die türkische Industrie in hohem Maße abhängig ist. Zusätzlich treiben die weltweit gestiegenen Rohstoff- und Energiekosten die Preise nach oben.

Ein Abflauen der Inflation ist nicht in Sicht. Die Erzeugerpreise stiegen im Dezember um fast 80 Prozent. Das dürfte in den nächsten Monaten auf die Verbraucherpreise durchschlagen. Trotzdem hält Erdogan an seiner unkonventionellen Zinspolitik fest. Wirtschaftswissenschaftler rechnen deshalb in den nächsten Monaten mit weiter steigenden Verbraucherpreisen.

Für den Staatschef könnte es politisch eng werden. Spätestens Mitte 2023 finden in der Türkei Parlaments- und Präsidentenwahlen statt. In einer Umfrage vom Dezember äußerten sich 57 Prozent unzufrieden mit Erdogans Amtsführung.

Frankreich: Energiescheck gegen teures Gas und teuren Strom

Eigentlich sind die Französinnen und Franzosen zwar an vergleichsweise hohe Lebenshaltungskosten gewöhnt, dafür aber auch an Energiepreise, die etwas unter dem europäischen Durchschnitt liegen. Doch im vergangenen Jahr stiegen Letztere laut dem französischen Statistikamt Insee um 18,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr an und sind hauptverantwortlich für die Inflation – ein Problem auch in Frankreich. Weniger stark und doch erkennbar nahmen die Preise für Dienstleistungen, frische Produkte und Lebensmittel zu. Insgesamt lag die Inflationsrate im Dezember bei 2,8 Prozent im Vergleich zum Jahresende 2020.

Die Inflation dürfte im derzeitigen Wahlkampf noch eine wichtige Rolle spielen, denn neben der Pandemie bezeichnen die Menschen in Frankreich die Kaufkraft als das für sie wichtigste Thema. Bereits Anfang Oktober hat die Regierung die Gaspreise gedeckelt, damit den Verbraucherinnen und Verbraucher bis April keine starken Mehrkosten entstehen – das hat zumindest offiziell mehr mit dem Ende der Heizperiode zu tun als mit der Präsidentschaftswahl im April.

Die Gas-Tarifbremse soll auch den Unternehmen zugutekommen. Dasselbe gilt für den Strompreis, der zumindest drei Monate lang nicht steigen sollte und ab Anfang dieses Jahres höchstens um vier Prozent. Rund sechs Millionen Haushalte mit geringem Einkommen erhielten im Dezember einen „Energiescheck“ über 100 Euro ausgezahlt.

Deutschland: Wirklich Entspannung in Sicht?

Durch die gestiegene Inflation in Deutschland steigt der Druck auf die Europäische Zentralbank, der Entwicklung entgegenzuwirken. EZB-Chefin Christine Lagarde hatte aber lange betont, dass der Inflationsanstieg vorübergehend sei und die Inflation 2022 sinkt. Schließlich dürften sich Sondereffekte durch die Corona-Krise normalisieren. Zahlreiche Ökonominnen und Ökonomen erwarten mittlerweile allerdings dauerhaft höhere Inflation.

Der frühere Ifo-Chef Hans-Werner Sinn warnte kürzlich vor einem „inflationären Grundszenario“ für die nächsten Jahre. Grund sei, dass die EZB ihre Geldmenge seit Juni 2008 versiebenfacht hat; auf den Märkten sei ein starker Geldüberhang festzustellen. Ist gleichzeitig die Nachfrage größer als das Angebot an Gütern, steigen die Preise.

Durch die Corona-Krise sind tatsächlich Stahl, Holz, Chips, Baumaterial und vieles mehr knapp gewesen. Die gewerblichen Erzeugerpreise in Deutschland lagen im Oktober 18,4 Prozent höher als im Vorjahresmonat, berichtete Sinn in der Ifo-Weihnachtsvorlesung. Dies sei der höchste Wert seit 1951. Es sei „nur eine Frage der Zeit“, bis die Preissteigerungen an die Endverbraucher weitergereicht werden.

Sinn rechnet noch mit weiteren inflationstreibenden Effekten, darunter höheren Tarifabschlüssen. Die neue Ampel-Koalition plant zudem höhere Schulden für Investitionen. Dazu komme ein demografischer Effekt: Immer mehr Menschen gehen in Rente und stecken ihr Erspartes in den Konsum. Zudem hat Sinn beobachtet, dass europäische Anlegerinnen und Anleger in Dollar flüchten, was den Euro unter Druck setzt und den Import in Dollar gehandelter Produkte teurer macht. Schließlich könnte der Klimaschutz preistreibend wirken: Abgaben auf CO2 machen Sprit und Gas teurer. Der Chefstratege des US-Investmenthauses Morgan Stanley, Ruchir Sharma, warnt vor einer „Greenflation“, einer Teuerungswelle durch die Energiewende.

„Wegen der Demografie, der neuen Staatsschulden, einer importierten Inflation und des Wechsels auf teure grüne Energien ist es wahrscheinlich, dass es zu weiteren Inflationswellen ähnlich wie in den 1970er Jahren kommt“, befürchtet Sinn. „Die EZB redet die Inflation klein, das empfinde ich fast als Realitätsverweigerung“, kritisierte er.

Bei der EZB könnte langsam ein Umdenken einsetzen: Man wisse, dass die Inflation 2022 zurückgehen werde, sagte Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel kürzlich. „Weniger sicher sind wir uns darüber, wie schnell und wie stark der Rückgang sein wird.“

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