Wohin steuert die europäische und speziell die deutsche Wirtschaft?

Presseartikel von Hans-Werner Sinn, Trends & Analysen Grosshandel, Nr. 1, Januar 2011, Seite 2 - 3

Deutschland ist aus Finanzkrise und Rezession wie Phönix aus der Asche aufgestiegen. Was momentan weltweit abläuft, ist allerdings ein Aufschwung mit sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten und mit zunehmenden Disparitäten unter den Staaten. So expandieren vor allem die BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) anhaltend kräftig, während sich das Wachstumstempo in den USA bereits wieder abgeschwächt hat.

In Europa wandern die Wachstumskräfte von der Peripherie ins Zentrum, insbesondere in den deutschsprachigen Raum. Der Grund hierfür ist, dass sich das Kapital aus Bonitätsgründen nicht mehr in die Peripherie (sog. GIPS Staaten, d.h. Griechenland, Irland, Portugal, Spanien) traut. Deutsche Banken verleihen ihr Geld wieder lieber an Firmen in Deutschland und nicht z. B. an solche in Spanien.

Hiervon gehen deutlich positive Auswirkungen auf die Investitionen in Deutschland und somit auf die Binnennachfrage aus. Und gerade dies ist die Neuigkeit für Deutschland: Die Binnenkonjunktur ist schneller als von den meisten Prognostikern erwartet wieder angesprungen. Das Wachstum ist also nicht in erster Linie vom Außenhandel getrieben. Drei Viertel stammten aus der Binnennachfrage und vor allem aus der Nachfrage nach Investitionsgütern. In punkto Wirtschaftsexpansion hat sich Deutschland 2010 innerhalb der EU sogar an die Spitze des Geleitzugs gestellt.

 

Allerdings wird der Aufschwung weltweit und damit auch in Deutschland an Intensität verlieren. Die durch die Finanzkrise offen gelegten strukturellen Probleme sind noch nicht überwunden. So ist in den USA nicht nur die Verschuldung des Staates, sondern gerade auch die der privaten Haushalte sehr hoch. Der Immobiliensektor ist stark geschrumpft, und auch der Finanzsektor hat sich noch nicht vollständig erholt. Die US-Bürger haben viel Geldvermögen verloren und die Arbeitslosigkeit verharrt auf hohem Niveau. Ebenfalls in einer schwierigen Lage befinden sich die süd- und westeuropäischen Länder wie Griechenland, Portugal, Spanien sowie Großbritannien und Irland; auch Frankreich schwächelt.

Aufgrund der drastisch verschlechterten Haushaltslage sieht sich die Finanzpolitik in vielen Industriestaaten gezwungen, auf einen Konsolidierungskurs umzuschwenken. Auf der anderen Seite ist in wichtigen Schwellenländern wie etwa China die wirtschaftliche Erholung bereits so weit fortgeschritten, dass die Politik bemüht ist, eine konjunkturelle Überhitzung mit entsprechend negativen Folgen auch für die Preisstabilitat zu verhindern. Neben China gilt dies beispielsweise auch für Indien, wo kürzlich erst der Internationale Währungsfonds vor einer möglichen Überhitzung der Wirtschaft gewarnt hat.

Alles in allem wird es also 2011 weltweit zu einem moderaten Konjunkturwachstum kommen. Nach der ifo Prognose wird das weltweite Bruttoinlandspordukt 2011 um etwa 3,6 Prozent steigen. In der Europäischen Gemeinschaft (EU27) wird die Zunahme etwa 1,6 Prozent und im Euro-Raum 1,4 Prozent betragen. In Deutschland selbst dürfte das Bruttoinlandsprodukt 2011 um 2,4 Prozent zulegen, wobei der Aufschwung in Deutschland von der Binnennachfrage dominiert wird. Die inländische Nachfrage wird etwa 2 Prozentpunkte zu den insgesamt 2,4 Prozent beitragen. Das bedeutet, für vier Fünftel des deutschen Aufschwungs ist die Binnennachfrage verantwortlich. Dabei wird erstmalig nach der Weltrezession auch der Konsum einen Beitrag leisten, wenn auch noch nicht ganz so viel wie die Investitionsgüternachfrage.

Allerdings bestehen weiterhin Risiken für den Aufschwung. Zuspitzen könnte sich die Situation beispielsweise durch einen sich anbahnenden Währungsstreit. Die USA könnten lnteresse an einem schwachen US-Dollar haben, da zur Korrektur des gewaltigen Leistungsbilanzdefizits mehr exportiert und weniger importiert werden muss. Theoretisch ist dies möglich, indem man den US-Dollar abwertet und gleichzeitig Importzölle, z. B. auf chinesische Waren, einführt. Der Haken dabei ist, dass China seine Währung, den Yuan, an den US-Dollar gekoppelt hat und sich nicht gewillt zeigt, auf die US-Forderung nach einer Aufwertung des Yuan einzugehen. Es ist anzunehmen, dass auch andere Länder versuchen werden, über die Währungspolitik ihre Exporte anzukurbeln. Dies könnte zu einer Spirale kompetitiver Abwertungen führen. Dieser Ernstfall muss natürlich nicht eintreten. Trotzdem sollte man sich auf etwas turbulentere Zeiten auf den Devisen- und Zinsmärkten einstellen.

Die jüngste Finanzkrise im Euroraum hat deutlich gemacht, dass einige der Kapitalanlagen deutscher Investoren im Ausland doch nicht so attraktiv waren, wie es anfangs erschien. Als Folge davon verbleibt wieder mehr Kapital in Deutschland und treibt die Konjunktur an. Spiegelbildlich passiert jetzt das, was in Europas südwestlicher Peripherie während der letzten fünfzehn Jahre geschah. Während die ehemaligen Schuldenländer stagnieren, boomt Deutschland.

Eine Einschränkung ist für dieses Szenarium allerdings zu machen: Es gilt unter der Voraussetzung, dass der neue Rettungsfonds, den die Staaten Europas beschlossen haben, eher restriktiv ausgestaltet wird. Wenn Deutschland seinen Konkurrenten auf dem Kapitalmarkt die eigene Bonität schenkt, indem ihnen der bedingungslose Freikauf, quasi eine Vollkaskoversicherung gegen Zahlungsunfähigkeit, angeboten wird, dann wird das Kapital wieder im Übermaß aus Deutschland heraus fließen. Die Fehlentwicklungen, zu denen es unter dem Euro kam, würden dann perpetuiert, und Deutschland würde beim Wachstum neben Italien wieder seine vertraute Schlusslichtposition einnehmen.

Speziell zur konjunkturellen Situation im Großhandel in Deutschland: Das Jahr 2010 stand für den Großhandel im Zeichen der Erholung. Diese wird den im Rahmen des ifo Konjunkturtests geäußerten Firmenerwartungen zufolge anhalten. Damit knüpft dieser Bereich an die Aufwärtsentwicklung an, die für den Zeitraum ab 2003 bis zur Krise im Jahr 2008 prägend war. Im Produktionsverbindungshandel basiert die Zuversicht der Unternehmen auf der Entwicklung einer wichtigen Kundengruppe, der des verarbeitenden Gewerbes. In diesem Bereich hat sich die Auslastung der Fertigungskapazitäten binnen Jahresfrist von 73 Prozent auf 83 Prozent erhöht. Die Hersteller rechnen mit einer Fortsetzung der Geschäftsbelebung und planen, die Produktion auszuweiten. Das wird sich positiv auf die weitere Nachfrage nach Rohstoffen und Halbwaren bei den einschlägigen Großhandelssparten auswirken. Auch die Händler mit Investitionsgütern dürften von der günstigeren Geschäftslage der Industrieunternehmen profitieren. Die Umsatzentwicklung des  Konsumgütergroßhandels wird durch den erwarteten Anstieg des privaten Verbrauchs angeregt.