"Wohlstand in Gefahr: Für eine neue Strategie in der Energiepolitik"

Es könnte Jahrzehnte dauern, bis die grünen Energiesysteme voll funktionsfähig sind. Die Zeit der Transformation muss realistisch überbrückt werden. Ein Gastbeitrag
Clemens Fuest, Hans-Werner Sinn, Roland Berger, Christoph Teis, Peter-Alexander Wacker

"Wohlstand in Gefahr: Für eine neue Strategie in der Energiepolitik", ifo Schnelldienst, 75 (12), S. 3-7, in Teilen veröffentlicht als "Wohlstand mit Energiepolitik", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. November 2022.

Deutschland und Europa befinden sich derzeit in einer Energiekrise, die vor allem durch die Verknappung des Gasangebots in Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine ausgelöst worden ist. Steigende Preise für Gas und Strom sowie in geringerem Umfang für Öl und Kohle belasten private Haushalte und Unternehmen erheblich. Kurzfristig geht es darum, den kommenden Winter und den voraussichtlich ebenfalls von großer Energieknappheit geprägten Winter 2023/2024 zu überstehen und eine Gasmangellage zu vermeiden. Für die mittel- bis langfristige Entwicklung des Wohlstands in Deutschland ist jenseits der akuten Krise entscheidend, dass die Energieversorgung für private Haushalte und Unternehmen gesichert und Deutschland als Standort für Industrie mit hoher Wertschöpfung und gut bezahlten Arbeitsplätzen erhalten wird. Das muss mit den Klimaschutzzielen, auf die Deutschland sich verpflichtet hat, in Einklang gebracht werden.

Die CO2 -Emissionen sollen bis 2030 gegenüber 1990 um 65% und bis 2045 um 100% sinken. Während Deutschland in den 31 Jahren, die seit dem Basisjahr vergangen sind, auch wegen des Untergangs der DDR-Industrie eine Senkung der Emissionen um 39% erreicht hat, soll in den verbliebenen 24 Jahren ein Rückgang um weitere 61% geschafft werden.

Gleichzeitig wird die Stromproduktion auf ein Vielfaches des heutigen Wertes steigen müssen, weil der Verkehr, die Heizung der Häuser und industrielle Prozesse elektrifiziert werden sollen. Allein die Versorgung der chemischen Industrie könnte nach Schätzungen so viel Strom benötigen, wie Deutschland heute insgesamt verbraucht. Das verdeutlicht die Dimension der geplanten Transformation.

Schon vor der aktuellen Krise bestand eine erhebliche Unsicherheit über die Zukunft der Energieversorgung in Deutschland, insbesondere über die Zukunft der Stromversorgung. Diese Unsicherheit hat durch die aktuelle Krise noch einmal zugenommen. Vor allem die energieintensiven Teile der deutschen Industrie werden nur dann in Deutschland bleiben, wenn sich Energiekosten und Versorgungssicherheit in Deutschland zumindest nicht schlechter entwickeln als an konkurrierenden Standorten, vor allem in den USA und China.

Es ist geplant, dass Kernkraftwerke und Kohlekraftwerke bald abgeschaltet werden und der Energieverbrauch zunehmend durch erneuerbare Energien und Gaskraftwerke gedeckt wird. Da die Leistung der Gaskraftwerke gut regelbar ist, eignen sich diese Kraftwerke besonders gut zur beständigen Kompensation der Volatilität der wetterabhängigen erneuerbaren Energien. Solange keine leistungsfähigen Speichertechnologien verfügbar sind und sich Talsperren und Biogasanlagen nicht hinreichend vermehren lassen, ist eine regelbare Energie das notwendige Komplement des Wind- und Sonnenstroms. Wegen gelegentlich auftretender Dunkelflauten muss die Kapazität der entsprechenden Anlagen ausreichen, die deutsche Stromnachfrage notfalls vollständig zu bedienen, zumal die Problematik auch im internationalen Stromverbund wegen der hohen Korrelation des Wetters in grundsätzlich ähnlicher Weise auftritt. Wenn wegen der geplanten Elektrifizierung fast aller Energieträger eine deutliche Steigerung der Stromproduktion gebraucht wird, dann ist eine entsprechende Steigerung der komplementären regelbaren Stromkapazität erforderlich.

Die benötigten regelbaren Energieträger können, wie bislang schon, die Atomkraft, die Kohle oder das Gas sein. Große Hoffnungen richten sich indes auch auf den Wasserstoff. Wasserstoff kommt nicht in natürlichen Reservoirs vor, sondern ist ein Energiespeicher, weil er mittels Elektrolyse aus Strom gewonnen wird und auf dem Wege über Brennstoffzellen oder Gaskraftwerke wieder zu Strom verwandelt werden kann. Die technischen und wirtschaftlichen Herausforderungen einer Wasserstoffwirtschaft sind jedoch erheblich. Bei der Schleife vom Strom über den Wasserstoff zurück zum Strom gehen etwa drei Viertel der verwendeten Energie verloren. Wasserstoff versprödet alle Materialien und impliziert ihren raschen Verschleiß. Außerdem verlangt der Wasserstoff zur kontinuierlichen Auslastung der Elektrolyseure einen bereits geglätteten Strom, setzt also etwas voraus, was er selbst erst noch schaffen soll. Dafür existieren technische Lösungen, aber sie sind aufwändig und haben Folgen für die Wirtschaftlichkeit. Im europäischen Stromverbund spielt der Wasserstoff keine Rolle, obwohl die Technologien seit Jahrzehnten bekannt sind. Das mag daran liegen, dass nur die sehr volatilen, den anderweitigen Verbrauch übersteigenden Angebotsspitzen des Wind- und Solarstroms für die Wasserstoffproduktion zur Verfügung stehen, denn es wäre widersinnig und unökologisch, mit grünem Strom Wasserstoff zu produzieren, wenn man diesen Strom auch unmittelbar zum Ersatz konventioneller Stromquellen verwenden könnte. Angesichts dieser Schwierigkeiten könnte es noch sehr lange dauern, bis eine funktionsfähige Wasserstoffwirtschaft aufgebaut ist.

Nach vorliegenden Szenarien wird der Stromverbrauch auch bei steigender Energieeffizienz in Deutschland schon kurzfristig, bis zum Jahr 2030, um rund 25% zunehmen.1 Dafür wird es nötig sein, zusätzlich konventionelle regelbare Kraftwerke als Komplement des volatilen Stroms aus grünen Quellen vorzuhalten. Im Jahr 2021 kamen noch rund 40% der Stromversorgung aus Kernkraft und Kohle. Die letzten Kernkraftwerke sollen schon im April 2023 abgeschaltet werden, die Kohlekraftwerke bis zum Jahr 2030. Deutschland beantwortet einen massiv steigenden Strombedarf also mit der Abschaltung eines erheblichen Teils seiner Kraftwerke, ohne dass klar ist, ob und wie die Lücke gefüllt und der steigende Strombedarf bedient werden kann. Falls das so umgesetzt wird, muss der Bedarf an regelbaren Energien in den kommenden Jahren primär durch Gaskraftwerke gedeckt werden.

Der Koalitionsvertrag der Ampel kündigt den Ausbau von Gaskraftwerken und die Schaffung einer Wasserstoff-Elektrolysekapazität von 10 GW bis zum Jahr 2030 an (Koalitionsvertrag 2021, S. 60). Belastbare öffentliche Planungen, diese Kapazitäten tatsächlich aufzubauen, fehlen jedoch genauso wie Rechnungen zu deren privater oder volkswirtschaftlicher Wirtschaftlichkeit. Für private Investoren sind Gaskraftwerke, die auf Wasserstoff umrüstbar sind, derzeit kein tragfähiges Geschäftsmodell. Es kommt erschwerend hinzu, dass angesichts des Ukraine-Konflikts auf absehbare Zeit nur noch in weit geringerem Umfang Gas aus Russland nach Europa und Deutschland fließen wird. Gas wird sich voraussichtlich nicht nur für die kommenden zwei Jahre, sondern auch mittelfristig spürbar verteuern, weil als Alternative nur LNG-Importe verfügbar sind, die erst noch einen Umbau der Infrastruktur verlangen. Nach aktuellen Schätzungen könnte Gas in Europa dadurch langfristig etwa doppelt so teuer werden wie vor der Krise (Prognos 2022). Damit ist der bisherige Plan für den Übergang zu einem klimaneutralen Energiesystem in Frage gestellt.

Für Deutschland wirft die Gasverknappung Probleme auf, die weit über die Folgen für die Stromproduktion hinausgehen. Für private Haushalte steigen die Heizkosten. Deutschland wird durch den Verlust des Zugangs zu Gasimporten aus Russland als Industriestandort an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Das betrifft weniger die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Standorten in Europa, weil der Gasmarkt zumindest in Nordwesteuropa stark integriert ist. Schon bislang haben viele Länder in Europa und nicht nur Deutschland von den Gasimporten profitiert. Der Verlust an Wettbewerbsfähigkeit ergibt sich jedoch gegenüber den USA und Asien.

Vor der Krise, im Durchschnitt der Jahre 2015–2019, lag der Gaspreis in Asien rund 22% über dem europäischen Niveau, in den USA kostete Gas etwa halb so viel wie in Europa. Im Jahr 2021, als Russland begann, seine Gaslieferungen nach Europa zu drosseln, fiel der Preisnachteil Asiens auf 16%, in den USA betrug der Gaspreis nur ein Viertel des europäischen Niveaus (BP 2022). Im Jahr 2022 war der Preisunterschied zwischenzeitlich noch deutlich größer. Aktuelle Szenarienrechnungen, die davon ausgehen, dass bis 2030 die russischen Gasimporte nicht wieder aufgenommen werden, kommen zu dem Ergebnis, dass sich die europäischen Gaspreise beim Dreifachen der amerikanischen Preise einpendeln könnten (EWI 2022b, S. 35). In China dürfte der Preis durch vermehrte russische Lieferungen gegenüber dem europäischen Niveau noch weiter sinken. Europa verliert also massiv an preislicher Wettbewerbsfähigkeit gegenüber beiden Konkurrenten.

Ähnlich ist die Entwicklung beim Strompreis. In den Jahren 2015-2019 lag der durchschnittliche jährliche Börsenstrompreis zwischen 28 und 43 Euro pro Megawattstunde, 2021 schon bei 93 Euro und 2022 noch deutlich höher.2 Die aktuell extremen Preisausschläge vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges werden nicht bleiben. Aber da die weitere Entwicklung des Strompreises stark vom Gaspreis abhängig ist, werden auch hier Deutschland und Europa gegenüber Asien und den USA an Boden verlieren.

Man könnte einwenden, dass es nicht nur auf Energiepreise, sondern auch auf Energieeffizienz ankommt. Das trifft zu, aber in vielen industriellen Anwendungen haben Verbesserungen der Energieeffizienz Grenzen. Außerdem sind effizientere Technologien in der Regel nicht an den Standort Deutschland oder Europa gebunden. Energieeffizienz allein kann Abwanderungsrisiken nicht aus der Welt schaffen.

Gelegentlich wird auch gefordert, Nachteile bei den Energiepreisen mit Subventionen auszugleichen. Die Subventionierung des industriellen Öl- und Gasverbrauchs wäre sicherlich kontraproduktiv, weil es wirtschaftlich selbstschädigend ist, dauerhafte Standortnachteile durch Subventionen auszugleichen. Vor allem vor dem Hintergrund massiver Subventionen für Industrieansiedlungen in den USA und im Hinblick auf sicherheitspolitisch problematische Abhängigkeiten kann es sinnvoll sein, öffentliche Mittel vorübergehend einzusetzen, um strategisch wichtige Industrien in Deutschland zu halten. Subventionsprogramme bergen allerdings stets die Gefahr, bestehende, nicht nachhaltige Strukturen zu erhalten. Das gilt es zu vermeiden.

Das Ziel der deutschen Energiepolitik besteht darin, möglichst schnell zu einer Energieversorgung zu kommen, die allein auf erneuerbaren Energien, grünem Wasserstoff und synthetischen Energieträgern basiert. Den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Wasserstoffwirtschaft zu beschleunigen, hat dafür zentrale Bedeutung und steht zu Recht im Mittelpunkt der energiepolitischen Strategie. Wir unterstützen den zügigen Ausbau der erneuerbaren Energien ausdrücklich. Aber hier ist Realismus gefragt. Nach der heute abschätzbaren Technikentwicklung wird es lange, eventuell Jahrzehnte, dauern, bis derartige Energiesysteme voll funktionsfähig sind. Deshalb ist es erforderlich, die Zeit, die zum Aufbau eines vollständig dekarbonisierten Energiesystems benötigt wird, zu überbrücken.

Eine klimaneutrale Energieversorgung wäre schneller erreichbar, wenn man mit den noch betriebsbereiten Kernkraftwerken eine gewisse Grundlast bereitstellt, die primär Kohlekraftwerke ersetzt und dazu beitragen kann, die saisonalen Schwankungen bei der Produktion der erneuerbaren Energien zwischen Sommer und Winter auszugleichen. Für die ganz kurzfristigen Schwankungen innerhalb eines Tages oder einer Stunde werden künftig auch zunehmend Batteriespeicher, vornehmlich die der Elektrofahrzeuge, in Frage kommen. In dem Umfang, wie es tatsächlich gelingen sollte, mit dem volatilen grünen Strom Elektrolyseure in Europa oder an anderen Standorten wirtschaftlich zu betreiben, kann auch Wasserstoff zur kurzfristigen Stabilisierung eingesetzt werden. Für die kommenden Jahre müssen die kurzfristig auftretenden Schwankungen in der Stromproduktion mit erneuerbaren Energien aber noch primär mit Gaskraftwerken abgedeckt werden.

Gas wird nicht nur für die Stromproduktion noch lange wichtig sein. Auch für Heizungen von Wohnungen und in vielen industriellen Anwendungen wird es noch viele Jahre lang eine wichtige Rolle spielen und nur schrittweise ersetzt werden können. Hier fehlt bisher vor allem der Wille, in alternative Techniken wie etwa Wärmepumpen zu investieren.

Um den Wohlstand in Deutschland zu sichern, ist es von zentraler Bedeutung, eine realistische energiepolitische Strategie zu verfolgen, mit der die Ziele einer sicheren, bezahlbaren und umweltfreundlichen Energieversorgung erreicht werden können.

Die Energiepolitik der kommenden Jahre sollte folgende Punkte beinhalten:

1. Die Stromversorgung sollte breit aufgestellt werden

Angesichts der erheblichen Unsicherheit über die weitere Entwicklung ist es von zentraler Bedeutung, die Stromversorgung breit aufzustellen und nicht leichtfertig Optionen aus der Hand zu geben. Der Ausbau erneuerbarer Energien ist massiv zu beschleunigen, ebenso wie der Bau von wasserstofffähigen Gaskraftwerken. Kernkraftwerke sollten erst dann abgeschaltet werden, wenn erprobte und leistungsfähige Anlagen zur Stromerzeugung zur Verfügung stehen, die tatsächlich ohne den Einsatz einer komplementären CO 2 -lastigen Regelenergie auskommen. Deutschland sollte die Kooperation mit Partnerländern vertiefen, die bereit sind, mit ihrer Kernkraft zur Minderung der durch Dunkelflauten entstehenden Probleme beizutragen, wobei zu bedenken ist, dass dadurch neue Abhängigkeiten entstehen können.

2. Der Strommarkt sollte umfassend geöffnet und flexibilisiert werden

Derzeit verhindern starre Regulierungen und Wettbewerbsbeschränkungen die notwendige breite Einbindung von dezentralen Erzeugern, vor allem Industrieunternehmen und privaten Haushalten in das Energiesystem. Ein Beispiel für diese Einbindung ist die Nutzung bidirektionalen Ladens bei Elektrofahrzeugen. Bei einer bis 2030 erreichbaren Zahl von 1,4 Millionen entsprechend ausgerüsteten Elektroautos könnte deren Nutzung als Speicher zum Ausgleich von sehr kurzfristigen Schwankungen bei erneuerbaren Energien den Bau von zehn Gaskraftwerken überflüssig machen.3 Das Ziel sollte darin bestehen, im Energiesystem eine Plattformökonomie zu entwickeln. Hier besteht das Potenzial, die Stromkosten für Haushalte und Unternehmen nachhaltig zu senken.

3. Sicherung der Gasversorgung durch Ausbau eigener Förderung und neue Pipelines

Für die Bewahrung Deutschlands als Industriestandort ist es von zentraler Bedeutung, eine sichere und preislich wettbewerbsfähige Gasversorgung sicherzustellen. Ein Weg dahin wäre der Ausbau der heimischen Gasförderung in Deutschland und Europa durch Fracking. Hier haben technische Entwicklungen zu umweltfreundlicheren Verfahren geführt, die schnell einsatzbereit wären. Die bekannten Gasvorkommen in Deutschland könnten die russischen Gaslieferungen für 14 Jahre ersetzen. Heimisches Fracking hätte den großen Vorteil, dass die politischen Unwägbarkeiten, die mit der Abhängigkeit von Gasimporten etwa aus Katar einhergehen, nicht auftreten. Deshalb ist es wichtig, die Gasförderung durch Fracking in Deutschland zu ermöglichen. Darüber hinaus sollten Gaspipelines innerhalb der EU und zu wichtigen Gaslieferanten wie etwa Norwegen, Großbritannien und südlichen Anrainern des Mittelmeerraums zügig ausgebaut werden.

4. Die Planungs- und Genehmigungsverfahren sind erheblich zu beschleunigen

Ein großes Hindernis für den Umbau des Energiesystems liegt in den langwierigen Planungs- und Genehmigungsverfahren. Derzeit dauert die Planung und Genehmigung eines Windradprojekts vier bis fünf Jahre. Allein bei den Genehmigungsverfahren vergehen zwischen der ersten Einreichung der Unterlagen und der Genehmigung im Durchschnitt rund zwei Jahre, bei großen Unterschieden zwischen den verschiedenen Bundesländern (EEG Bund-Länder-Kooperationsausschuss). Lange Genehmigungsverfahren behindern auch das Ersetzen vorhandener Anlagen, die zur Erneuerung anstehen. Bei dieser Dauer ist es kaum möglich, bis 2030 die ambitionierten Ausbauziele für erneuerbare Energien zu erreichen. Planungsverfahren bei Ausbau von Strom- oder Gasnetzen sind ebenfalls viel zu lang. Das hat auch mit intensiver Bürgerbeteiligung zu tun, die zwar prinzipiell wünschenswert, deren Umfang aber abzuwägen ist gegenüber anderen Zielen, insbesondere dem Ziel, gesamtwirtschaftlich bedeutende Investitionsprojekte voranzubringen. Vor allem der Ausbau des Stromnetzes in Deutschland muss dringend beschleunigt werden, auch im Hinblick auf Elektromobilität. Hier ist eine Anpassung von Details der bestehenden Regelungen nicht hinreichend. Die Bundesregierung hat erste Maßnahmen zur Planungsbeschleunigung für den Ausbau erneuerbarer Energien ergriffen, aber weitere Schritte sind erforderlich. Benötigt wird eine grundlegende Neufassung der Genehmigungsverfahren mit dem Ziel einer erheblichen Beschleunigung. Auch das Fracking könnte nur dann eine rasche Entlastung bieten, wenn die Genehmigungs- und Prüfdauern stark reduziert würden.

5. Forschung und Entwicklung zu Energiesystemen und Energieeffizienz verstärken

Die Schaffung einer dekarbonisierten, bezahlbaren und sicheren Energieversorgung erfordert große Anstrengungen in Forschung und Entwicklung. Staatliche Förderung sollte hier Schwerpunkte in den Bereichen der erneuerbaren Energien, der Energieeffizienz, intelligenter Stromnetze und Speichertechnologien der Wasserstoffwirtschaft legen, aber andere Gebiete wie insbesondere die Fusionsforschung und die Forschung an anderen Reaktoren nicht vernachlässigen. Selbst wenn Deutschland bei der Entscheidung bleiben sollte, nicht zur Kernkraft zurückzukehren, können diese Technologien einen wichtigen Beitrag zur Eindämmung des weltweiten Klimawandels leisten und haben gute Exportchancen.

Der Warnung vor einer Deindustrialisierung durch Energieverknappung könnte man entgegenhalten, die Verluste seien durch den Aufbau anderer, weniger energieintensiver wirtschaftlicher Aktivitäten auszugleichen, und das erleichtere außerdem das Erreichen von Klimaschutzzielen. Es wird auch argumentiert, die Zahl der gasintensiv hergestellten Produkte in Deutschland sei überschaubar, ihr Anteil an den Industrieumsätzen begrenzt. Diese Argumente sind nicht überzeugend. Der Aufbau weniger energieintensiver Wertschöpfung ist sicherlich möglich, erfordert aber Zeit und ist angesichts des ohnehin beschleunigten Strukturwandels in Schlüsselindustrien wie etwa der Automobilbranche höchst riskant. Die Zahl der gasintensiv hergestellten Produkte oder ihr Umsatzanteil allein sagen wenig über die wirtschaftliche Bedeutung von Gas für den heimischen Wohlstand. Die Verteuerung der Gasimporte würde den inländischen Wohlstand selbst dann senken, wenn die heimische Industrieproduktion nicht beeinträchtigt würde, weil die betreffenden Zwischenprodukte problemlos importiert werden könnten. Die Verlagerung energieintensiver Produktion an andere Standorte mit geringeren Klimaschutzstandards würde global zu steigenden CO 2 -Emissionen führen. Energieintensive Industrien stehen in keinem prinzipiellen Konflikt mit Dekarbonisierungszielen, weil sie sich zunehmend auf CO 2 -freie Energie stützen. Hinzu kommt, dass energieintensive Industrien wie etwa die chemische Industrie oder Teile der Metallindustrie grundlegende Bedeutung für fast alle Wertschöpfungsketten haben. Die Abwanderung dieser Industrien könnte angesichts wachsender geopolitischer Spannungen Versorgungsrisiken aufwerfen oder sogar andere Industrien mitziehen.

Derzeit ist die energiepolitische Debatte in Deutschland geprägt von einer irrationalen Konfrontation zwischen Befürwortern konventioneller und erneuerbarer Energien, die einer Überwindung der anstehenden Herausforderungen im Weg steht. Die Wahrung des Wohlstands in Deutschland erfordert Veränderungsbereitschaft und eine pragmatische Energiepolitik, die ideologische Grabenkämpfe hinter sich lässt.

1 Siehe etwa EWI (2022a, S. 11), Szenario mit hohem Elektrifizierungsgrad. Stromverbrauchsszenarien kommen je nach Prämissen über Preisentwicklung und den angenommenen Elektrifizierungsgrad zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Eindeutig ist aber, dass der Stromverbrauch in Deutschland, wenn es zu der geplanten Elektrifizierung des Verkehrs, der Gebäudeheizungen und der Industrie kommt, mittel- und langfristig stark zunehmen wird.

2 Quelle: https://energy-charts.info/charts/price_average/chart. htm?l=de&c=DE&year=-1&interval=year&chartColumnSorting=default.

3 Quelle: Berechnungen der Firma P3.

Nachzulesen auf www.faz.net und auch www.ifo.de.