Schulden sind unsozial

Ökonom Hans-Werner Sinn über die Gefahren der kräftig wachsenden Staatsverschuldung - und warum Sparen der einzige Ausweg ist
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Stern, 19.05.2004, S. 194

Ein Hund legt sich keinen Wurstvorrat an. Die deutschen Regierungen taten dies auch nicht. Als das Geld da war, wurde es verprasst, als es nicht reichte, wurden Schulden gemacht. So glitt der deutsche Staat in die Schuldenfalle.

Den ersten großen Sprung hat die sozial-liberale Koalition getan. Die Schuldenquote - die Relation von Staatsschulden und Bruttoinlandsprodukt - verdoppelte sich von 20 auf knapp 40 Prozent. Helmut Schmidt und Walter Scheel wollten die Geschenke des Sozialstaates verteilen, aber den Bürgern die Rechnung nicht präsentieren. Der zweite Sprung kam unter Helmut Kohl. Er wagte es nicht, den Bürgern bezüglich der Kosten der Vereinigung reinen Wein einzuschenken, und zog es vor, die Transfers in die neuen Länder auf Pump zu finanzieren. Die Schuldenquote stieg von 40 auf über 60 Prozent. Sie war so hoch, dass Theo Waigel nicht einmal den normalen Einstieg in die Währungsunion schaffte, was eine Quote von weniger als 60 Prozent verlangt hätte. Selbst den total überschuldeten Italienern konnte man daraufhin den Beitritt in die Währungsunion nicht mehr verwehren.

Gerhard Schröder und Hans Eichel folgten in den Fußstapfen ihrer Vorgänger. Sie erhöhten die Schuldenquote von 61 Prozent im Jahr 1998 auf 64 Prozent 2003, in diesem Jahr treiben sie die Quote über die 66-Prozent-Grenze, im nächsten Jahr steuern sie auf 68 Prozent zu. Die Staatsschulden werden Mitte 2005 die Grenze von 1,5 Billionen Euro übersteigen. Das ist mehr als dreimal so viel wie zur Zeit des Mauerfalls.

Schuldenmachen ist schön, wenn man damit anfängt. Der Spaß hört auf, wenn man auf den Schulden sitzt und die Zinsen zahlen muss. Früher konnte man das mit dem Hinweis auf reiche zukünftige Generationen verdrängen. Das geht nicht mehr. Zum einen sind wir das Land mit der niedrigsten Wachstumsrate weit und breit seit 1995 - woher der künftige Reichtum kommen soll, steht in den Sternen. Zum anderen schwinden die zukünftigen Generationen wegen der Geburtenarmut dahin. Die Babyboomer sind jetzt 40. Nach ihnen kommt nicht mehr viel. Schon die Altersklasse der 30-Jährigen ist um 40 Prozent dünner besetzt, und dann schwinden die Alterskohorten weiter. Nein, die Vorstellung, dass zukünftige Generationen uns aus der Patsche helfen, ist abwegig. Wir sind es, die die Zeche zahlen.

Die Zinsen auf die Staatsschuld liegen in diesem Jahr bei mehr als 68 Milliarden Euro, obwohl die Zinssätze so niedrig sind wie nie zuvor. Wenn sich die Zinssätze wieder normalisieren, wird diese Last über 100 Milliarden Euro liegen. Schon heute liegt die Zinslast über der Nettoneuverschuldung von 65 Milliarden Euro, die der Stabilitäts- und Wachstumspakt erlaubt.

Das ist der wahre Grund, warum die Regierung sich nicht an den Pakt hält und das EU-Recht bricht. Sie will auch etwas von der Verschuldung haben wie ihre Vorgänger. Die Staatsschulden sollen in diesem Jahr um weitere 80 Milliarden Euro steigen, seit voriger Woche ist gar von 90 Milliarden Euro die Rede. Statt den Gürtel enger zu schnallen, stellt der Staat abermals neue Wechsel auf die Zukunft aus.

Die Regierung führt als Begründung an, dass sie Deutschland nicht kaputtsparen will. In Wahrheit macht sie nicht nur Deutschlands Glaubwürdigkeit kaputt, sondern auch die Bereitschaft der Investoren, sich langfristig zu binden. Wer sein Geld in Deutschland lässt, muss wissen, dass er eines Tages zur Kasse gebeten wird. Deutschland hat sich mit seiner Schuldenpolitik zum Gespött Europas gemacht. Die EU-Kommission hat Klage erhoben, um Deutschland zur Zahlung der Vertragsstrafen zu zwingen. Die Präsidenten der Landesrechnungshöfe und des Bundesrechnungshofs haben einen dramatischen Sparappell an die Regierung gerichtet, der in der Geschichte der Republik ohne Beispiel ist. Das alles riecht nach Staatskrise.

Die Krise muss abgewendet werden. Dazu muss der Staat lernen, dass man nicht dauerhaft über seine Verhältnisse leben kann. Der Anteil, den der Staat vom Bruttoinlandsprodukt absorbiert, ist seit der Kanzlerschaft Willy Brandts von 39 auf 49 Prozent gestiegen. Die Staatsquote am Volkseinkommen liegt gar bei 57 Prozent. Das meiste Geld ging in den Sozialetat, der heute knapp 700 Milliarden Euro ausmacht, die Unternehmen wurden mit 60 Milliarden Euro Subventionen bedacht.

41 Prozent der erwachsenen Deutschen leben von staatlichen Renten, Pensionen, Arbeitslosengeldern, Sozialhilfeleistungen, Bafög und ähnlichen Transfers. Das kann so nicht bleiben, wenn Deutschland wieder eine Zukunft haben soll. Die meisten Subventionen müssen fallen, die sozialen Leistungen sollten nur noch im Ausmaß der Inflation erhöht werden. Das reale Wachstum der Wirtschaft muss für eine Rückführung der Staatsquote genutzt werden. Nur so kann sich Deutschland allmählich aus der Schuldenfalle befreien.

Von dem Wirtschaftsforscher Hans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Instituts, erschien zuletzt das Buch "Ist Deutschland noch zu retten?", Econ-Verlag, 25 Euro