Der Hammer aus Brüssel

Autor/en
Hans-Werner Sinn
WirtschaftsWoche, 08.05.2006, S. 198

Hans-Werner Sinn über einen Grundfehler deutscher Einwanderungspolitik

Wenn ein Weiser gebeten würde, die Regeln für eine Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland festzulegen, so würde er verlangen, dass die Zuwandernden arbeiten, doch würde er Kostgänger nicht zulassen. Wenn Politiker agieren, machen sie es umgekehrt. Sie begrenzen die Zuwanderung für Leute, die arbeiten wollen, und erleichtern sie für solche, die das nicht vorhaben. Ja, wer nicht arbeitet, dem versprechen sie sogar noch die Segnungen des Sozialstaates. Stimmt nicht? Schauen wir uns die Rechtslage an.

Die Dienstleistungsrichtlinie der EU war ursprünglich von Weisen konzipiert worden. Sie sollte den Selbständigen das Recht auf Zuwanderung geben, doch wurde sie auf Druck der Lobbys im EU-Parlament zerfleischt. Es wimmelt von Ausnahmen und Begrenzungen. Das Herkunftslandprinzip wurde gekippt. Wer hier arbeiten will, muss das zu den gleichen Bedingungen tun wie die einheimischen Anbieter, aber da es zu diesen Bedingungen nicht genug zu tun gibt, wird er lieber zu Hause bleiben.

Ähnlich ist es mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Es war ein hehres Ziel der weisen Väter der römischen Verträge, einen gemeinsamen europäischen Arbeitsmarkt zu schaffen. Natürlich müssten demnach auch die osteuropäischen EU-Bürger das Recht erhalten, hier eine Arbeit anzunehmen. Doch die Proteste der Gewerkschaften zwangen die Politik, in den Protokollen zu den Beitrittsverträgen lange Übergangsfristen zu vereinbaren. So plant Deutschland, das Recht der Zuwanderung osteuropäischer Arbeitnehmer bis zum Äußersten zu begrenzen, nämlich bis zum April des Jahres 2011.

Ganz anders bei denen, die nicht arbeiten wollen. Vor einer Woche, zum 1. Mai 2006, musste die Freizügigkeitsrichtlinie der EU umgesetzt sein. Danach erhalten Nicht-Arbeitende ab sofort das volle Zuwanderungsrecht, egal ob sie aus den alten oder den neuen EU-Ländern kommen. Deutschland hat der Richtlinie mit dem "Freizügigkeitsgesetz EU" aus demJahr2004 sogar schon vorauseilend gehorcht. Andere Länder kamen in letzter Minute. Belgien, Italien, Luxemburg und Finnland hinken nach, brechen damit aber geltendes EU-Recht.

Die Freizügigkeitsrichtlinie wurde in Europa praktisch nicht diskutiert. Kaum einer kennt sie. Keiner regt sich auf. Die Zeitungen schweigen sich tot. Und ähnlich die Parteien, die alle einer Meinung sind. Doch in Wahrheit ist die Freizügigkeitsrichtlinie der Hammer: Sie ist der Hammer, mit dem die europäische Gesellschaft verbogen und der Sozialstaat deformiert, wenn nicht zerbröselt wird, denn erstmals in der Geschichte der EU wird das Recht auf direkte Zuwanderung in den Sozialstaat gewährt.

Was sagt die Richtlinie? Nach einem formlosen Aufenthaltsrecht von bis zu drei Monaten gibt sie jedem EU-Bürger die Möglichkeit, in jedem anderen EU-Land ein formelles Aufenthaltsrecht von bis zu fünf Jahren zu verlangen, wenn er einen Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel nachweisen kann. Das ist soweit in Ordnung. Aber dann kommt es: Wenn die fünf Jahre um sind, hat der Gast automatisch ein Daueraufenthaltsrecht, und zwar auch, wenn er dann völlig verarmt ist und sich keine Krankenversicherung mehr leisten kann. Wenn er nicht arbeitsfähig ist, erhält er die Sozialhilfe; wenn er arbeitsfähig ist, kriegt er das Arbeitslosengeld II; beides selbstverständlich inklusive eines freien Krankenversicherungsschutzes.

Herr Kauder, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, sollte seinen Gesundheitssoli lieber noch aufstocken. Und einen Sondersoli für immigrierende Rentner sollte er auch gleich mit fordern. Dann kann er folgende Annonce in der Tageszeitung "Fakt" von Axel Springer Polska schalten:

Sie leben in Polen, sind 59 und merken, dass Ihre Altersvorsorge nicht reicht? Dann kommen Sie zu uns. Sie leben von Ihrem Geld, bis Sie 65 sind. Danach kümmern wir uns um die Details. Bis Gott Sie zu sich holt, garantieren wir Ihnen eine Sozialhilfe 50 Prozent über dem polnischen Lohn.

Bayern hat eine Gesetzesinitiative in den Bundestag eingebracht, um sicherzustellen, dass das Arbeitslosengeld II nicht schon in den ersten drei Monaten fällig werden kann. Das ist ein löbliches Unterfangen auf einem Nebenkriegsschauplatz. Aber es geht nicht um die ersten drei Monate, auch nicht in erster Linie um die ersten fünf Jahre. Das wahre Problem ist die Zeit danach. Nach Ablauf der fünf Jahre wird die direkte Zuwanderung in die soziale Hängematte uneingeschränkt ermöglicht, ja den Beteiligten fast schon angedient. Sie müssen nicht einmal selbst aktiv werden, um die Rechte zu erlangen.

Warum stellt die Politik den Rat des Weisen auf den Kopf und erlaubt den Müßiggängern, nicht aber den Arbeitenden den Zugang? Weil nur die rivalisierenden Berufsstände politisch gut organisiert sind und wirksame Lobbys betreiben. Ausländische Arbeit, die hier angeboten wird, drückt die Löhne und Preise. Das ist für die konkurrierenden Unternehmen und Arbeitnehmer schlecht, doch gut für die Kunden. Per saldo gewinnen die Kunden, die mehr und billiger einkaufen können, sogar mehr, als die Konkurrenten verlieren.

Doch sind die Kunden nicht organisiert, da sie sehr viel zahlreicher als die Konkurrenten sind. Ihr Vorteil verteilt sich diffus über viele Köpfe. Pro Kopf ist der Gewinn aus einer politischen Aktion zu klein, als dass es sich lohnt, aktiv zu werden. Ähnlich ist es bei den Steuerzahlern, die für die sozialen Leistungen aufkommen müssen. Wegen ihrer großen Zahl ist der Streitwert pro Kopf zu klein, als dass sie wirksamen Widerstand leisten könnten. So kommt es, dass die Politik dem Rat der Weisen nicht folgt und die Vernunft mit den Füßen tritt.

Hans-Werner Sinn ist Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung und einer der renommiertesten Ökonomen des Landes.