Heillos überfordert

Zum Rettungspaket für die Banken gibt es keine Alternative.Staatliche Finanzhilfen für Industriebetriebe aber wären ein ökonomischer Sündenfall, sagt Hans-Werner Sinn.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Wirtschaftswoche, 02.03.2009, Nr. 10, S. 43

Zählen wir einmal zusammen: Deutschland hat seinen Banken 550 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, wovon allein 100 Milliarden für die Hypo Real Estate bestimmt sind. Die beiden Konjunkturprogramme kosten 80 Milliarden Euro und die Bürgschaftsprogramme zugunsten der deutschen Industrie 100 Milliarden Euro. Hinzu kommen noch Gelder der Bundesländer für einzelne Landesbanken in Höhe von gut 30 Milliarden Euro. In der Summe geht es um etwa 760 Milliarden Euro. Selbst wenn nur ein Drittel der in dieser Summe enthaltenen Bürgschaften in Höhe von 570 Milliarden Euro zum Schluss als Kosten für den Staat verbliebe, würde die Gesamtlast aller Programme bei 380 Milliarden Euro liegen. Das entspricht etwa 127 Transrapidstrecken zum Münchner Flughafen, 200 fünfjährigen Exzellenzinitiativen für die Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland oder rund 60 000 Kilometer neuer Autobahnen mit sechs Fahrstreifen.

Die Schuldenquote Deutschlands, also das Verhältnis von Schulden und Bruttoinlandsprodukt (BIP), lag zuletzt bei etwa 64 Prozent - der Maastrichter Vertrag erlaubt 60 Prozent. Die Zinsen auf diese Schulden beliefen sich auf 69 Milliarden Euro oder 6,3 Prozent der gesamten Staatsausgaben. Wenn die genannte Summe von 380 Milliarden Euro per Kredit finanziert wird, steigt die Schuldenquote auf 79 Prozent, und die jährlichen Zinsen wachsen unter sonst gleichen Bedingungen auf 85 Milliarden Euro an - was 7,7 Prozent der Staatsausgaben oder 3,4 Prozent des BIPs entspricht. Die Zinslastquote bezüglich des BIPs liegt damit über den drei Prozent, die der Stabilitäts- und Wachstumspakt als maximale Nettoneuverschuldung zulässt. Die Bundesrepublik ist nun definitiv in der Phase ihrer Geschichte angekommen, wo die Schulden anfangen, wehzutun.

Die zusammenbrechende Konjunktur lässt dennoch keine andere Wahl, als neue Schulden zu machen. Das Rettungspaket für die Banken ist erforderlich, denn ohne die Banken kann die Wirtschaft nicht existieren; dazu gibt es keine Alternative. Auch ist das Konjunkturprogramm vom Grundsatz her erforderlich, trotz aller Mängel im Detail. Manche linke Ökonomen wollten Konjunkturprogramme mitten im Boom der Jahre 2006 und 2007. Das war absurd. Aber heute steht die Welt in einer keynesianischen Krise und braucht deshalb die keynesianische Medizin.

Was Deutschland freilich nicht braucht, sind strukturerhaltende Maßnahmen, wie sie zunehmend unter dem Deckmantel der Konjunkturpolitik gefordert werden. Das Bürgschaftsprogramm ist bereits ein Sündenfall, und nun will die Politik gezielt einzelne Unternehmen retten. Opel, Airbus, Schaeffler, Rosenthal, Märklin, und wie sie alle heißen, sind aber erst der Anfang. Es werden noch viele Firmen in Bedrängnis kommen und um Staatshilfe bitten. Der Staat kann diesen Bitten gar nicht nachkommen, denn so viel Geld hat er nicht. Und selbst, wenn er es hätte, so würde er den natürlichen Ausleseprozess verfälschen, der eine der großen Stärken der Marktwirtschaft ist. Zu jeder wirtschaftlichen Aktivität gibt es vielfache technische Varianten und Alternativen, die auch hätten stattfinden können, aber ökonomisch nicht effizient sind. Diese Varianten auszumerzen und sinnvolle Dinge herauszufiltern begründet die Überlegenheit der marktwirtschaftlichen Ordnung über die Planwirtschaft.

Sicher brauchen Firmen Geld, um ihre Arbeiter, das eingesetzte Kapital und die Vorprodukte zu bezahlen. Aber dieses Geld muss von ihren Kunden kommen. Die Kunden sind es, die entscheiden, was produziert wird und was nicht. Den politischen Prozess an die Stelle der Kunden zu setzen heißt, dass der Staat den Bürgern das Geld wegnimmt und es an ihrer Stelle ausgibt. Dabei ist er heillos überfordert, wie die kommunistischen Systeme, die lange genug ausprobiert wurden, gezeigt haben. Weder kann die Politik die Menge an Informationen sinnvoll verarbeiten, die für sachgerechte Kaufentscheidungen nötig sind, noch haben die Politiker, Firmen und die von der Strukturpolitik betroffenen Bürger die nötigen Anreize, sich effizient zu entscheiden. Nicht wer die besten Güter herstellt, wird in der Staatswirtschaft gerettet, sondern wer am lautesten schreit, wer am größten ist und wer den größten politischen Einfluss hat.

Das heißt nicht, dass der Markt alles richten kann. Er kann zum Beispiel die Bereitstellung der öffentlichen Infrastruktur nicht sinnvoll organisieren. Auch kann er bestimmte Informationsprobleme oder Externalitäten verschiedenster Art nicht selbst richtig erfassen. Aber um all das geht es bei der Rettung der Unternehmen, von denen nun die Rede ist, nicht. Sie produzieren normale, marktfähige Güter, bei denen der Staat über ein allgemeines Konjunkturprogramm hinaus nichts zur Verbesserung der Kaufentscheidungen der Bürger beisteuern kann.

Man stelle sich einmal vor, die Politik und nicht der Markt hätte seit dem 19. Jahrhundert die Wirtschaftsstruktur bestimmt und den regelmäßig in den konjunkturellen Krisen stattfindenden Strukturwandel verhindert. Dann wären immer noch zwei Drittel aller Deutschen in der Landwirtschaft beschäftigt - und wir wären genauso arm wie damals. Die Dynamik der Marktwirtschaft resultiert aus der fortwährenden schöpferischen Zerstörung einzelner Unternehmen, die nicht mehr gebraucht werden. Die dort gebundenen Produktionsfaktoren werden für neue Dinge freigesetzt, die es sonst nicht gäbe. Also: Allgemeine Konjunkturpakete ja, aber Finger weg von den Firmen!

Hans-Werner Sinn ist Präsident des Ifo Instituts für Wirtschaftforschung und Ordinarius an der Ludwig-Maximilians-Universität in München