Die Atempause

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Project Syndicate, 27.12.2012

MÜNCHEN – Mit der Ankündigung unbegrenzter Käufe von Staatspapieren hat die EZB die Märkte beruhigen können. Sie hat den Eigentümern dieser Papiere damit nämlich versichert, dass sie die Steuerzahler und Rentner der noch gesunden Länder der Eurozone notfalls für die Rückzahlung der Staatskredite in Anspruch nehmen wird, wobei sie den Weg, auf dem das geschehen könnte, noch offen ließ. Das hat die Kauflust der Anleger gesteigert, die Kurse der Papiere der Krisenländer erhöht und die Zinsspreads verringert. Die Finanzierung der Krisenökonomien durch lokale Geldschöpfungskredite (Target-Kredite) konnte durch das Garantieversprechen der EZB wieder etwas reduziert werden.

Nun gilt es, die Atempause zu nutzen und die nötigen Reformen voranzutreiben. Antonis Samaras muss seine Landsleute überzeugen, dass er es ernst meint. Spanien sollte dem Kurs von Mariano Rajoy folgen. Mario Monti braucht noch mehr Rückhalt für seine Pläne. Und Vitor Gaspar sollten die Portugiesen gewähren lassen. Die Führung dieser Länder hat verstanden, was nun nötig ist.

Frankreich freilich scheint die Zeichen der Zeit noch nicht verstanden zu haben. Präsident Hollande will die Probleme seines Landes durch Wachstumsprogramme lösen. Aber wenn Politiker Wachstum sagen, meinen sie Verschuldung. Das ist das Letzte, was Frankreich sich erlauben kann. Seine Schuldenquote liegt heute schon bei 90%, und selbst wenn das Budget-Defizit im Jahr 2013 tatsächlich nur 3,5% des BIP betragen sollte, wird sie in einem Jahr auf 93% gestiegen sein. Frankreichs Staatsquote ist mit 56% die höchste der Eurozone und die zweithöchste aller entwickelten Länder der Welt. Nicht nur Schauspieler wie Gerard Depardieu verlassen das Land wegen der hohen Steuern, sondern auch die Industrie. Die einst stolze Automobilindustrie kämpft um ihr Überleben. Frankreichs verarbeitendes Gewerbe hat nur noch einen Wertschöpfungsanteil von 9% am BIP. Das ist weniger, als Großbritannien vorzuweisen hat (10%), und die Hälfte des deutschen Anteils (20%). Die Leistungsbilanz rutscht immer weiter in den negativen Bereich hinein. Die Arbeitslosigkeit steigt immer weiter.

Das Grundproblem Frankreichs wie auch der Länder, die noch stärker von der Krise erfasst sind, ist, dass sie durch den billigen Kredit, den der Euro ihnen viele Jahre gewährte, eine Inflationsblase entwickelten, die sie ihrer Wettbewerbsfähigkeit beraubte. Goldman Sachs hat berechnet, dass Frankreich um 20% billiger werden muss, bis es seinen Schuldendienst dauerhaft wird leisten können. Das ist der gleiche Wert wie in Spanien. Italien muss seine Preise um 10%-15%, Griechenland um 30% und Portugal um 35% senken. Ein Blick auf die OECD-Zahlen zur Kaufkraftparität zeigt ähnliches. Danach muss Griechenland beispielsweise um 39% und Portugal um 32% billiger werden, um das Preisniveau der Türkei zu erreichen. Passiert ist in dieser Hinsicht bislang so gut wie nichts. Manche der Krisenländer inflationieren noch immer schneller als ihre Wettbewerber.

Politiker neigen zu der Ansicht, es sei möglich, durch Reformen, Infrastrukturprojekte und Produktivitätsverbesserungen wettbewerbsfähiger zu werden, ohne die Preise senken zu müssen. Das aber ist ein Trugschluss, denn diese Maßnahmen verbessern die Wettbewerbsfähigkeit nur in dem Maße, wie dadurch die Preise relativ zu den Wettbewerbern fallen. An der Senkung der relativen Preise im Euroraum führt kein Weg vorbei. Das kann geschehen, indem die Wettbewerber schneller inflationieren oder indem man selbst in die Deflation geht. In keinem Fall steht ein einfacher und für die Gesellschaft bequemer Weg zur Verfügung. In einzelnen Fällen ist er so steinig, dass man ihn der Bevölkerung gar nicht zumuten kann. Dort liegt zwischen dem, was zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit nötig wäre, und dem was eine Gesellschaft gerade noch ertragen könnte, eine zu große Lücke, als dass man sich im Euroraum eine Lösung vorstellen könnte.

Um billiger zu werden, muss die Inflationsrate unter die Inflationsrate der Wettbewerber gedrückt werden, aber das gelingt nur durch eine Wirtschaftsflaute, die umso länger anhält, je hartnäckiger die Gewerkschaften die heutigen Lohnstrukturen verteidigen und je niedriger das Produktivitätswachstum ist. Eine Flaute von zehn Jahren, bei der man jedes Jahr um zwei Prozent weniger inflationiert als der Rest der Eurozone würde Spanien und Frankreich den gewünschten Erfolg bringen. Für Italien ist der Weg kürzer, für Portugal und Griechenland vielleicht zu lang.

Italien, Spanien und Frankreich können die nötige Senkung der relativen Preise schaffen, denn Deutschland hat es ja auch geschafft. Von 1995, dem Jahr, als der Euro auf dem Gipfel von Madrid definitiv angekündigt wurde, bis 2008, dem Jahr der Lehman-Krise, hat Deutschland seine Preise um 22% gesenkt. Vor etwa zehn Jahren war Deutschland in einer ganz ähnlichen Situation wie Frankreich heute. Es war der kranke Mann Europas. Der größte Teil seiner Ersparnisse wurde im Ausland investiert, und es hatte eine der niedrigsten Nettoinvestitionsquoten aller OECD-Länder. Unter dem Druck der Ökonomen und der Industrie, rang sich die Regierung Schröder zur Abschaffung der Arbeitslosenhilfe durch, was Millionen von Deutschen ihrer vermeintlichen sozialen Rechte beraubte. Das ermöglichte die Schaffung eines Niedriglohnsektors und half, das Inflationstempo zu drosseln.

Leider sieht es aktuell nicht so aus, dass die Krisenländer, allen voran Frankreich, diesen Weg wirklich gehen wollen. Die gesellschaftlichen Kräfte sträuben sich gegen die Einsicht in die ökonomischen Notwendigkeiten und träumen großenteils von der Zauberformel zur Lösung der Krise. Das lässt darauf schließen, dass uns die Eurokrise leider noch sehr lange erhalten bleiben wird.

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