Zeit für ein umfassendes Sparpaket"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Handelsblatt, 30.06.2003, S. 3

NACHGEFRAGT: HANS WERNER SINN

Was halten Sie vom Vorziehen der Steuerreform?

Im Vorfeld habe ich die Idee wegen der ungesicherten Finanzierung abgelehnt. Jetzt, wo die Entscheidung steht, verdient die Bundesregierung Loyalität. Indes sollten Volkswirte und Opposition die Regierung nun zum Sparen zwingen - jetzt ist die Zeit für ein umfassendes Kürzungspaket.

Sie plädieren für eine vollständige Gegenfinanzierung?

Ja, und für noch mehr. Auch ohne die Reform liegen wir nächstes Jahr bereits bei mindestens 3,2% Neuverschuldung. Ohne Gegenfinanzierung würde die Neuverschuldung auf 4,1 % steigen. Das verbietet der Stabilitätspakt, und an dem müssen wir unbedingt festhalten, wenn wir die Glaubwürdigkeit der deutschen Politik nicht gefährden wollen.

Trotz der außergewöhnlich schlechten Wirtschaftslage?

Deutschland hat eine kleine Konjunkturkrise und ein riesiges Strukturproblem. Die Politik muss die Konjunktur vergessen und etwas dagegen tun, dass das Land in Europa Schlusslicht beim Wirtschaftswachstum ist.

An welchen Stellen sollte die Gegenfinanzierung ansetzen?

Auf keinen Fall bei den Ausgaben für öffentliche Infrastruktur - sondern im sozialen Bereich. Wir haben zu viel Sozialstaat, der die Wirtschaft lähmt. Die Aussetzung der Rentenerhöhung 2004 ist als Sofortmaßnahme sinnvoll. Das Rentenniveau ist langfristig ohnehin nicht tragfähig. Außerdem sollte die Politik die Subventionen für Steinkohle, Landwirtschaft, den sozialen Wohnungsbau und eine Reihe weiter Posten streichen.

Ist das durchsetzbar?

Wenn es überhaupt durchsetzbar ist, dann jetzt in der Krise. Kurzfristig schmerzhafte Strukturreformen gelingen der Politik immer nur in schlechten Zeiten.

Was bringt das Vorziehen der Steuerreform für die Konjunktur?

Ohne Kreditfinanzierung gibt es kurzfristig konjunkturell einen negativen Impuls, weil die Konsumneigung derer, die davon profitieren, geringer ist als die der Leute, die durch die Gegenfinanzierung Einbußen haben. Das sollte man aber im Interesse des langfristigen Wachstums hinnehmen, zumal sich die Konjunktur ohnehin wiederfängt.

Das Gespräch führte Olaf Storbeck.