"Der Letzte kriegt die Krümel"

Interview mit Hans-Werner Sinn, WirtschaftsWoche, 24.06.2004, S. 27

Ifo-Chef Hans Werner Sinn über Industriepolitik und die Fusionspläne der Deutschen Bank.

Sinn, 56, ist Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität München und Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung.

Herr Professor Sinn, Sie plädieren dafür, dass die Politik im Wettbewerb um Firmenstandorte eine aktive Rolle spielen soll. Was kann Deutschland von Frankreich lernen?

Es muss lernen, sich zu verteidigen. Die europäische Pharmaindustrie ist jetzt fest in französischer Hand, in der Energieversorgung besitzt Frankreich mit der staatlichen EDF eine dominante Position. Dagegen lässt sich Deutschland von einem ordnungspolitischen Leitbild staatlicher Nichteinmischung tragen. Das ist zwar das bessere Konzept, aber es führt nicht zum Ziel, so lange sich andere Länder nicht daran halten.

Stellen Sie damit Politikern nicht einen Freibrief für staatlichen Interventionismus aus?

Nein. Es ist grundsätzlich nicht Aufgabe des Staates, sich in die Belage der Unternehmen einzumischen. Allerdings gibt es zwei Ausnahmen. Erstens Bereiche, in denen es viele Externalitäten gibt, also bei der Forschung und im Bildungsbereich sowie beim Knüpfen industrieller Netzwerke. Zweitens hat der Staat eine legitime Rolle bei der Abwehr von Zusammenschlüssen, die zur Bildung von Marktmacht führen, zumal wenn sich hier ausländische Großkonzerne einmischen, die selbst durch Staatshilfe zustande gekommen sind. Hier kann der einzelne Staat im Interesse seiner nationalen Unternehmen tatsächlich Verbesserungen erreichen.

Welche?

Leider ist es so, dass ein Land, das seinen Unternehmen bei Zusammenschlüssen oder Fusionen hilft, die zu starken und stabilen Agglomeraten führen, anderen Ländern Gewinne wegnehmen kann. Wer sich nämlich zuerst platziert, schafft Fakten, an die sich Nachfolgende anpassen müssen. Auch der Zweite oder Dritte hat davon noch Vorteile gegenüber anderen, sie sich noch später formieren. Grundsätzlich gilt: Je früher ein Land aktiv wird, desto größer der Vorteil. Wer zuletzt kommt, kriegt nur noch die Krümel.

Sind Sie für eine Politik der Global Players?

Nein, mein Urteil ist differenzierter. Am besten wäre es, wir hätten eine wirksame Fusionskontrolle und ein funktionierendes Wettbewerbsrecht in Europa, um solcherlei Strategien zu unterbinden, konkret, um Frankreich an seinen industriepolitischen Interventionen zu hindern und die französischen und italienischen Staatskonzerne im Energiesektor und sonst wo zu zerschlagen. Das ordoliberale Leitbild, auf dem unser deutsches Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen basiert, wäre auch für ganz Europa eine tolle Sache. Nur: So lange wir dieses Leitbild auf EU-Ebene nicht durchsetzen können und sich andere Länder ganz anders verhalten, sollten wir nicht blauäugig weiter nach unseren alten Wettbewerbsregeln agieren.

Hat Brüssel im Fall von Alstom oder Aventis versagt?

Ja. Hier sind für meinen Geschmack viel zu große Unternehmenseinheiten entstanden. Schon Eucken, Erhard und Müller-Armack haben betont, dass Unternehmen dazu neigen, sich zusammenzuschließen, um gemeinsam den Verbraucher auszubeuten. Diese Tendenz zerstört die Grundlage der Marktwirtschaft. Deshalb brauchen wir eine starke Fusionskontrolle, die den Wettbewerb durchsetzt.

Ludwig Erhard war die schlechte, interventionistische Wirtschaftspolitik Frankreichs egal. Warum soll das jetzt falsch sein?

Weil die Franzosen so mächtig geworden sind. Wir können es nicht hinnehmen, wenn sich Frankreich die europäische Großindustrie einverleibt. Frankreich ist jetzt auch in der Automobilindustrie stark geworden. Wer weiß denn, was uns da noch bevorsteht?

Wäre es nicht besser, wenn Deutschland seine Rahmenbedingungen auf breiter Front verbessert als sich an dieser Politik staatlicher Interventionen zu beteiligen?

Natürlich müssen wir den Standort verbessern. Aber selbst wenn er supertoll wäre und Alstom und Sanofi nach Deutschland kämen, um hier zu produzieren, wären es französische Unternehmen. Die Gewinne würden in französische Hände fließen, und die wirtschaftliche und politische Macht, die damit verbunden ist, läge in Frankreich.

Die Engländer sehen das anders. Dort heißt es, es sei völlig egal, wem eine Bank gehört, Hauptsache sie arbeite in der Londoner City. Dort boomt der Standort dank ausländischer Banken.

Die Engländer sind beileibe keine fairen Wettbewerber. Warum wollen denn alle Auslandsbanken nach London? Weil England darauf verzichtet, von deren Managern Einkommensteuern zu erheben. Wenn das keine Industriepolitik ist, was denn dann?

Was konkret hat Frankreich von seinen nationalen Champions?

Frankreich kann sich in oligopolistischen Märkten ein größeres Stück aus dem Gewinnkuchen herausschneiden, wenn es den Anteil seiner nationalen Champions am europäischen Markt erhöht. Dazu kommt: Wo die Unternehmenszentralen sind, entstehen auch hochwertige und gut bezahlte Jobs, es bilden sich qualifizierte Dienstleistungsunternehmen heraus. Solche Zentralen sind auch im Sponsoring für kulturelle und soziale Zwecke tätig. Und wenn es Krisen gibt, macht man als letztes die Zentrale zu. Das heißt, die Arbeitsplätze sind wesentlich sicherer und unanfälliger gegen konjunkturellen Schwankungen als die an peripheren Unternehmensstandorten. Das ist alles toll für Frankreich, nur nicht für die anderen Länder. So kann Europa nicht funktionieren.

Was konkret sollte die Bundesregierung unternehmen?

Wir müssen mit aller Kraft auf eine europäische Wettbewerbsordnung hinwirken, die solche Megazusammenschlüsse verhindert und den Staatseinfluss verhindert. Bevor diese Initiative jedoch zum Erfolg führt, muss der deutsche Staat versuchen, Übernahmen, die von anderen Staaten betrieben werden, zu verhindern. Blauäugigkeit und liberale Ideologien helfen nicht weiter. Die Regierung müsste von Fall zu Fall ihren Handlungsspielraum ausloten und dazu nutzen, deutsche Unternehmen zu schützen, wenn ausländischer Staatseinfluss im Spiel ist. _Darüber hinaus sollte sie in jedem Fall auch dann handeln, wenn durch freundliche oder feindliche Übernahmen durch ausländische Großkonzerne Marktmacht entsteht, die eine Benachteiligung der Verbraucher erwarten lässt.

Was hätte die Regierung denn im Fall von Aventis unternehmen sollen?

Der Bundeskanzler hätte frühzeitig klar stellen können, dass wir es als unfreundlichen Akt ansehen, wenn die Regierung in Paris in der Weise agiert, wie sie es getan hat.

Wo liegt da die Grenze zum Protektionismus?

Die Verhinderung von Unternehmenszusammenschlüssen, die auf staatlichen Einfluss zurückzuführen ist, ist eine legitime Protektion. Und Wettbewerbskontrollen, die Marktmacht verhindern, sind ebenfalls legitime Protektion.

Macht die EU in diesem Sinne die richtige Politik?

Die EU hat ein für mich unverständliches wettbewerbspolitisches Leitbild. Sie fordert, dass grenzüberschreitende Unternehmenszusammenschlüsse erleichtert werden und kritisiert zum Beispiel Länder, die die Goldene Aktie haben, um den Ausverkauf ihrer Unternehmen zu verhindern. Das finde ich, ehrlich gesagt, abwegig. Staatliche Interventionen, die die Bildung von Marktmacht verhindern, sind kein Widerspruch zum Leitbild einer liberalen Marktwirtschaft, sondern ganz im Gegenteil die Voraussetzung für eine solche Wirtschaftsform. Ein starker Staat, der den Wettbewerb erhält, ist der Grundpfeiler einer liberalen Wirtschaftsordnung.

Die EU-Wettbewerbspolitik zieht auch gegen die deutschen Schutzvorkehrungen, wie sie zum Beispiel bei VW existieren, zu Felde.

Ja, weil sie Zusammenschlüsse erleichtern will. Ich habe sogar das Gefühl, die EU bemüht sich insbesondere, die deutschen Schutzvorkehrungen zu knacken. Gegen Frankreich aber geht die EU immer nur ein bisschen vor - die Franzosen sind im Brüssel ganz offensichtlich viel stärker vertreten und können vieles verhindern.

Welche Instrumente könnte die Bundesregierung zum Schutz deutscher Unternehmen einsetzten?

Die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone wurde mit einem Aktientausch bezahlt. Ich könnte mir vorstellen, in vergleichbaren Fällen auf Barzahlung zu bestehen. Das wäre ein gewisser Schutz, denn durch die Fusion müssten die Unternehmen dem Kapitalmarkt einen Gutteil ihres Kapitals zurückgeben. Die Anleger könnten dann über dessen bestmögliche Verwendung entscheiden. Ohne den Zusammenschluss hätten wir mehr Wettbewerb in Europa, und wahrscheinlich ginge es den Verbrauchern besser.

Sollte die Bundesregierung einschreiten, wenn die Deutsche Bank im Zuge einer Fusion mit Credit Suisse ihren Sitz ins Ausland verlegt?

Ja. Beide Unternehmen sind so groß, dass weitere Größenvorteile in der Erbringung ihrer Dienstleistungen kaum zu sehen sind. Auch aus politischen Gründen können wir nicht zulassen, dass die größte deutsche Bank aus Deutschland verschwindet. Banken sind etwas anderes als normale Unternehmen aus der Produktion. An ihnen hängt die ganze Volkswirtschaft, und schließlich erhalten sie ihr Privileg, sich an der Geldschöpfung zu beteiligen und selbst gedrucktes Buchgeld verzinslich zu verleihen, vom Staat.

Was könnte, was sollte Berlin dagegen tun?

Rein rechtlich wäre eine solche Verlagerung wohl nicht zu verhindern. Deshalb müsste die Regierung ihren politischen Einfluss spielen lassen. Immerhin ist die Deutsche Bank mit dem Staat in vielfältiger Weise verwoben und auf Kooperation angewiesen. Ich sage es mal so: Wenn die Deutsche Bank sich illoyal verhalten will, hat auch der Staat gewisse Möglichkeiten, sich unfreundlich zu äußern.

Das Interview führten Rolf Ackermann/Konrad Handschuch