Die Schweiz kann nur mitmachen

Interview mit Hans-Werner Sinn, Weltwoche, Nr. 5, 29.01.2015, S. 20-21.

Der Ökonom Hans-Werner Sinn gehört zu den profiliertesten Kritikern von EZB-Chef Mario Draghi. Hier erklärt er, was die Schweiz gegen die Kapitalflut tun kann und weshalb Griechenland aus dem Euro austreten sollte. Von Beat Gygi und Florian Schwab

Herr Sinn, am vergangenen Donnerstag hat Mario Draghi Anleihenkäufe im Umfang von 1,2 Billionen Euro angekündigt. Welche Ziele verfolgt die Europäische Zentralbank (EZB) damit?

Sie will die Inflation ankurbeln. Ich vermute den tieferen Beweggrund darin, dass Draghi den Südländern erlauben möchte, durch Preiszurückhaltung wettbewerbsfähig zu werden, also indem sie in einem inflationären Umfeld Löhne und Preise nur langsam ansteigen lassen. Alternativ würde nur eine natürliche Deflation die Wettbewerbsfähigkeit steigern: sinkende Löhne und sinkende Preise. Ich vermute ferner, dass die EZB die Banken der Krisenländer retten und es den Staaten erleichtern will, sich neu zu verschulden.

Sind diese Ziele erreichbar?

Ja. Alle Ziele sind erreichbar, auch das Inflationsziel. Die Geldflut wird zum Teil ins Ausland drängen und eine Abwertung des Euro herbeiführen. Ein Vorbote davon war, dass die Schweiz ihre Währung durch die Aufhebung der Wechselkursuntergrenze gewissermaßen präventiv aufwerten ließ. Die Abwertung des Euro erhöht die Importpreise unmittelbar und ermöglicht es der Exportwirtschaft, ihre Preise ohne Absatzeinbußen zu erhöhen.

Das Experiment ist ohne Beispiel, und auch für Experten sind die Folgen unabsehbar. Wer übernimmt die Verantwortung, wenn es scheitert?

Warum sollte es scheitern? Es wird im Sinne der Mehrheit des EZB-Rates funktionieren. Dieser repräsentiert die weit überschuldeten Länder. Der kleine Schönheitsfehler ist nur, dass es die Sparer enteignet, zum einen über weiterhin fallende Zinsen, zum anderen über die angestrebte Inflation.

Was bedeutet Draghis Aussage, es gebe keinen Plan B? Ist das einfach Rhetorik?

Er weiß, dass Plan A funktioniert. Also braucht er keinen Plan B.

Er könnte die Dosis noch weiter erhöhen.

Das ist vorgesehen. Er hat ja gesagt, dass er so lange weitermachen will, bis die Inflationserwartungen nachhaltig verändert wurden. Und wann dieser Zeitpunkt gekommen ist, das will die EZB sicherlich selbst bestimmen.

Beginnt die Notenbank damit nun Staaten zu finanzieren? Oder hat das sogar schon früher im Versteckten angefangen?

Das im Sommer 2011 angerollte Staatsanleihenprogramm (SMP) ist bereits eine Staatsfinanzierung aus der Druckerpresse. Zudem hat die EZB die Sicherheitsstandards für Staatspapiere, die die Banken als Pfänder für Refinanzierungskredite bei ihr einreichen durften, unter das Investment-Niveau gesenkt. Damit konnten die Banken Staatsanleihen tiefer Bonität bei der EZB hinterlegen und erhielten dafür Geld. Auch das ist eine Finanzierung von Staatsausgaben aus der Druckerpresse. Quantitative Easing (QE) heißt nur, dass die EZB die Schrottpfänder nun sogar selber kauft.

Wo liegt der Unterschied zu Staatsschuldenkäufen in den 1920er Jahren durch die Deutsche Reichsbank, die eine Hyperinflation in Gang setzten?

Das waren keine länderübergreifenden Operationen, die die Risiken zwischen den Staaten umverteilten.

Auch beim EZB-Programm verbleibt offenbar ein Großteil der Risiken bei den nationalen Notenbanken.

Achtzig Prozent bleiben zum Glück in nationaler Haftung. Zwanzig Prozent liegen in Gemeinschaftshaftung, wovon acht Prozent auf die allgemeinen Käufe der EZBZentrale entfallen. Zwölf Prozent sind zweckgebunden für den Kauf von Papieren anderer europäischer Institutionen wie beispielsweise der Europäischen Investitionsbank im Rahmen des Juncker-Programms.

Wie lange wird der Drache «Inflation» Ihrer Ansicht nach noch schlafen? Wann und wodurch könnte er erwachen?

Die EZB hat ihn gerade zu erwecken versucht.

Trauen Sie der EZB und der US-Notenbank zu, dass sie bei einer Beschleunigung der Inflation rasch genug durch Zinserhöhungen Gegensteuer geben?

Nein, jedenfalls nicht der EZB, denn die Inflation wird gebraucht, um die Südländer wieder wettbewerbsfähig zu machen.

Alle großen Notenbanken haben sich auf das Überschwemmen der Wirtschaft mit Geld verlegt. Kann man mit Gelddrucken überhaupt die Wirtschaft ankurbeln?

Über die Abwertung schon.

In den USA ist das, was die EZB nun unternimmt, schon früher erfolgt, und unter angelsächsischen Ökonomen ist es nicht umstritten. Haben die Amerikaner recht, oder sind sie zu sorglos?

Der Vergleich hinkt. Die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) kauft gar keine Staatspapiere von Gliedstaaten, genauso wenig wie die Schweizer Notenbank die Obligationen der Kantone kauft. Die EZB geht sehr viel weiter, als es die Fed jemals täte.

Ist die Geldpolitik heute weltweit in eine Sackgasse geraten, ja müsste man nicht schon fast von einem Irrenhaus sprechen?

Nein. Die lockere Geldpolitik will die Probleme zu Lasten der Gläubiger lösen. Sie bedeutet einen impliziten Schuldenschnitt. Das ist nicht irre, sondern clever – für die Profiteure.

Wer wird die Rechnung begleichen müssen?

Die Sparer. Erstens bekommen sie kaum noch Zinsen, zweitens wird ihr Finanzvermögen durch die angestrebte Inflation entwertet.

Sind die kleinen Länder praktisch zum Mitmachen gezwungen?

Die Schweiz kann nur mitmachen, in der Tat.

Immerhin hat die Schweiz gerade ihre geldpolitische Eigenständigkeit wiederhergestellt. Muss sie trotzdem mitmachen bei der Überschwemmung?

Die Reaktionen zeigen, wie wenig autonom die Schweiz ist. Wenn sie die Aufwertung des Frankens in Grenzen halten will, muss sie Maßnahmen zur Abschreckung des Fluchtkapitals ergreifen.

Die Wechselkursuntergrenze war über viele Jahre ein Mittel, bei relativ überschaubaren Kosten die EZB-Politik «mitzumachen». War ihre Aufhebung demnach ein Fehler?

Das würde ich nicht zu behaupten wagen. Die Notenbank hat sich das sicher gut überlegt. Hätte sie den Kurs später freigegeben, wären die Verluste deutlich höher ausgefallen. Die Lage wurde ihr zu brenzlig angesichts der riesigen Kapitalzuflüsse, die in Antizipation des QE-Programms schon ins Land strömten. Nach dem Beschluss und der Durchführung dieses Programms durch die EZB hätte sich die Problematik noch verstärkt.

Wie stark ist die EZB heute «verpolitisiert»? Wird die Geldpolitik der Euro-Zone zu stark durch Finanz-, Arbeitsmarkt-, Regional oder Sozialpolitik beeinflusst?

Manche Mitglieder des EZB-Rats vertreten erkennbar nationale politische Interessen. Sie nehmen den Regierungen die Arbeit ab. Das ist nicht sonderlich demokratisch.

Wird die Geldpolitik nun zur Vergemeinschaftung von Risiken in der EU missbraucht, weil andere politische Klammern nicht zustande kommen – Stichwort Eurobonds oder Fiskalunion?

Ja. Dank des Widerstands im EZB-Rat haben wir zum Glück nur 20 Prozent Eurobonds bekommen. Man kommt im EZB-Rat viel schneller zu einer solchen Entscheidung als in den Parlamenten. Ein Problem dabei ist das Übergewicht der mediterranen Länder und der Umstand, dass jedes Land, ob groß oder klein, das gleiche Stimmrecht hat. Ein anderes Problem ist, dass Maßnahmen mit fiskalischen Implikationen mit einfacher Mehrheit entschieden werden.

Wie stehen Sie persönlich zur ganzen Entwicklung, die sich bei der EZB seit der Finanzkrise eingestellt hat?

Ich sehe eine Entmachtung der Parlamente durch den EZB-Rat und eine Abwendung von der Demokratie. Die EZB tut Dinge, von denen die Fed nicht einmal träumen würde, und sie agiert wie eine europäische Wirtschaftsregierung.

Wäre eine Euro-Zone mit weniger Mitgliedern aus Ihrer Sicht anzustreben, und wäre es auch möglich, auf geordnetem Weg dahin zu gelangen?

Der Weg dahin ist angesichts der Nervosität der Finanzmärkte schwierig. Eine sinnvolle Alternative sehe ich dennoch nicht, denn der jetzt gewählte Kurs führt geradewegs in die Transferunion und den Schuldensumpf.

Die Griechen haben mit Syriza eine Kraft gewählt, die der Gläubiger-Troika die Stirn bieten möchte. Was bedeutet das Wahlergebnis für den Euro?

Härtere Verhandlungen. Zipras will mehr Geld, das die anderen Länder ihm nicht geben möchten.

Ist die Wahrscheinlichkeit eines «Grexit» gestiegen?

Ja. Wenn er bei seinen Forderungen bliebe, wäre der Austritt die Konsequenz. Er wird sie aber etwas herunterschrauben. Da nicht klar ist, wie weit er dabei gehen kann, ohne in Griechenland sein Gesicht zu verlieren, ist die Wahrscheinlichkeit eines Austritts aus der Euro-Zone gestiegen.

Die griechischen Schulden liegen schon heute überwiegend bei der EZB und anderen öffentlichen Gläubigern. Was ist das wahrscheinlichste Ergebnis des nun zu erwartenden Schuldenpokers?

Die EZB wird sich gegen einen Schuldenschnitt zu ihren Lasten mit Händen und Füssen wehren. Und Zipras hat schon gesagt, dass er die privaten Gläubiger schonen will – wohl wissend, dass er sie ohnehin nicht mehr greifen kann, weil die Umschuldung nach britischem Recht erfolgte. Also wird der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) die Zeche zahlen müssen. Wenn Zipras allerdings überzieht, dann steht der Austritt an, den ich für die griechische Bevölkerung ohnehin für das Beste halte.