ifo Standpunkt Nr. 160: Zwei Modelle für Europa

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 29. Oktober 2014

Der französische Ministerpräsident Valls und sein italienischer Kollege Renzi haben erklärt, dass sie den 2012 neu vereinbarten Fiskalpakt nicht einhalten und wieder mehr Schulden machen wollen. Daran ändern auch neue Vorschläge nichts. Ihre Erklärung sollte daher Anlass sein, über die Konstruktion der Europäischen Währungsunion nachzudenken.

Damit eine Währungsunion stabil ist und es nicht zu Schuldenexzessen kommt, sind zwei Modelle denkbar, ein Sozialisierungsmodell und ein Haftungsmodell.

Nach dem Sozialisierungsmodell werden die Schulden der Einzelstaaten kollektiv durch die gemeinsame Zentralbank oder fiskalische Rettungssysteme abgeschirmt, so dass für die Anleger Investitionssicherheit besteht und die Zinsspreads zwischen den Ländern weitgehend verschwinden. Damit dies nicht zu mehr Verschuldung führt, werden politische Schuldenschranken vereinbart.

Nach dem Haftungsmodell ist jeder Staat für seine eigenen Schulden zuständig, und bei Konkurs haben die Gläubiger das Nachsehen. Angesichts der Gefahr für ihr Geld verlangen die Gläubiger frühzeitig hohe Zinsen oder geben keine weiteren Kredite, was eine Disziplinierung der Schuldner impliziert.

Europa hat die Sozialisierung probiert. Einerseits wurde den Krisenländern großzügiger Beistand in Form des Rettungsschirms ESM, der Target-Kredite (1000 Mrd. Euro aus den lokalen Druckerpressen) und eines kostenlosen Schutzversprechens der EZB (OMT) gewährt. Andererseits wurde 2012 der Fiskalpakt geschaffen, der verlangt, die Schuldenquote jährlich um ein Zwanzigstel des Abstandes zu 60% des BIP zu kürzen.

Die USA verfolgen demgegenüber das Haftungsmodell. Wenn ein Teilstaat wie derzeit Kalifornien, Illinois oder Minnesota am Rande der Pleite steht, kommt niemand zur Hilfe, auch nicht die Zentralbank. Anders als die EZB kauft die Fed keine Papiere der Teilstaaten des US-Systems. Im Konkursfall müssen die Investoren Verzicht leisten. New York hat 1975 seine zukünftigen Steuereinnahmen verpfändet, um zahlungsfähig zu bleiben.

Die USA waren nicht immer so strikt. Nach ihrer Gründung hatte der erste Finanzminister Alexander Hamilton 1791 die Schulden der Einzelstaaten zu Bundesschulden gemacht, und 1813, beim zweiten Krieg gegen Britannien, wurden die Schulden abermals sozialisiert. Hamilton bezeichnete die Schuldensozialisierung als “Zement” für den neuen amerikanischen Staat. Doch war das Resultat eine Kreditblase, die 1837 platzte und neun von 29 amerikanischen Staaten und Territorien in den Konkurs trieb. Die ungelöste Schuldenproblematik verschärfte die Spannungen wegen der Sklavenfrage, die 1861 den Sezessionskrieg auslösten. Insofern war die Vergemeinschaftung eher Sprengstoff als Zement für den neuen amerikanischen Staat, wie der amerikanische Historiker Harold James vermerkt.

Erst nach dem Sezessionskrieg verabredeten die US-Staaten, ihre Föderation fortan nach dem Haftungsmodell zu betreiben. Dieses Modell hat ihnen bis heute Stabilität gebracht und die Verschuldung der Einzelstaaten wirksam begrenzt.

Das Verhalten Frankreichs und Italiens zeigt in aller Deutlichkeit, dass das Sozialisierungsmodell auch in Europa nicht funktioniert. Statt zu fallen, wie vertraglich vereinbart, wird die französische Schuldenquote von 2012 bis zum Ende dieses Jahres von 91% auf 96% gestiegen sein und jene Italiens gar von 127% auf 135%. Weitere Zuwächse werden für die Folgejahre erwartet.

Deshalb sollte die EZB der Fed folgen und auf das OMT-Programm verzichten, zumal dieses Programm nach Meinung des deutschen Verfassungsgerichtes ohnehin nicht im Einklang mit den EU-Verträgen steht. Ferner sollte eine Goldtilgung der Target-Schulden eingeführt werden, wie sie in den USA bis 1975 für die Tilgung der Salden zwischen den Distrikten des Federal-Reserve-Systems üblich war. Vielleicht sollte man auch den Fiskalpakt zur Disposition stellen. Diese Maßnahmen werden den Investoren glaubhaft klarmachen, dass sie bei einem drohenden Konkurs nicht auf eine Rettung mit der Druckerpresse hoffen können, und sie veranlassen, höhere Zinsen zu verlangen oder Kredite gar nicht erst zu vergeben. Das wird die Disziplin der Schuldenländer stärken und Europa vielleicht gerade noch rechtzeitig vor einer Schuldenlawine bewahren, die das europäische Integrationsprojekt zerstören würde.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel “Zwei Modelle für Europa”, Handelsblatt, Nr. 208, 29. Oktober 2014, S. 48, und unter dem Titel “Europe’s Brush with Debt” bei Project Syndicate.